Auftragswerk für Beethovenjahr: Womöglich zum letzten Mal

Ein besonders feiner Programmpunkt: der Film „Wir haben die Schnauze voll“ des britischen Konzept­künstlers Jeremy Deller für den Kunstverein Bonn.

Kinder tanzen um ein Orchester herum

Filmstill aus „Wir haben die Schnauze voll“ von Jeremy Deller Foto: Kunstverein Bonn

Es ist kein Graffiti-Tag, es ist eine Marke: BTHVN2020. So streetwise klingt die offizielle Abkürzung des Beethoven-Jahres. Die zugehörige Internetseite verwendet praktischerweise das gleiche Kürzel. BTHVN? 2020 jährt sich Ludwig van Beethovens Geburtstag zum 250. Mal. An der Bedeutung des Komponisten merkt man schon, dass das nur alle 50 Jahre stattfindende „Beethoven-Jahr“ als konzertante Aktion von Bund, Land NRW, dem Rhein-Siegkreis und der Stadt Bonn gemeinsam gestemmt wird. Die ganze Welt ist eingeladen. Und die Internetseite verkündet daher einen „einzigartigen Schulterschluss“.

Ein kleiner, besonders feiner Programmpunkt der Festivitäten ist „Wir haben die Schnauze voll“, ein Film, den der britische Konzeptkünstler Jeremy Deller im Auftrag des Bonner Kunstvereins am Geburtsort des Komponisten gedreht hat. Er ist ab heute zusammen mit einem weiteren Deller-Werk, „Putin’s Happy“, im Rahmen einer Ausstellung zu sehen. Auch in diesem Film spielt die Musik von Beethoven eine Rolle. Dazu später mehr.

Dellers Wahl als Regisseur für ein Auftragswerk zum Beethoven-Jahr ist überraschend. Denn bislang ging er nur sehr vertraut mit den Insignien von Popkultur aus britischer Perspektive um. In dem Film „Everybody in the Place“ setzte er etwa jungen britischen Student:innen mit migrantischen Wurzeln die Ravekultur Großbritanniens der späten Achtziger vor. Andererseits, der Umgang mit Beethoven hat längst Eingang in die Populärkultur gefunden, das weiß auch Deller und denkt an die Comicserie „Peanuts“ von Charles M. Schulz, der seiner Hauptfigur Charlie Brown den Beethoven-Fan Schroeder an die Seite stellte, was unzählige Verweise auf den Komponisten und dessen Heimatstadt Bonn zur Folge hatte.

Der deutsche Filmtitel „Wir haben die Schnauze voll“ klingt nach renitenten ­Comic-Helden, darin porträtiert der bildende Künstler aber das Bonner Beethoven-Orchester bei einer Probe von zwei Sätzen der Siebten Sinfonie. Dazu stoßen Schüler:innen, die erstmals einer Orchesterprobe beiwohnen. Später sieht man diese Kinder bei einer Demonstration von Fridays for Future. Sie tragen Banner mit Slogans gegen die Untätigkeit der Erwachsenen angesichts des Klimawandels.

Der ersten Überwältigung der Kinder folgt bald ihr Impuls, sich zur Musik zu bewegen

„Wir haben die Schnauze voll“ beginnt mit einer Totalen auf das rheinische Braunkohlerevier Garzweiler, von den rauchenden Kühltürmen schwenkt die Kamera über zu Windrädern auf einem Feld, dann sehen wir Straßenszenen in Bonn, einen Bus, der eine belebte Kreuzung überquert, Fußgänger an einer Bahnunterführung, Rushhour-Alltag einer mittelgroßen westdeutschen Stadt. Dazu spielt ein einsames Cello. Allmählich setzen weitere Orchestermusiker:innen ein oder stimmen ihre Instrumente. Sorgsam, fast meditativ proben sie und lassen sich ein auf Beethovens Werk, dabei achtend auf die strengen Anweisungen ihres Dirigenten Dirk Kaftan, der mit ihnen die Partitur durchgeht.

Die Kinder hören der Musikdarbietung konzentriert zu. Ihrer anfänglichen Überwältigung folgt bald der Impuls, sich dazu zu bewegen, sie bilden einen Kreis und tanzen um das Orchester. „Als ich elf Jahre alt war, habe ich erstmals mein Schulorchester erlebt, ein Haufen ungelenker Halbwüchsiger spielte mit, der wunderschöne Lärm, den sie zusammen entfesselt haben, hat mich geplättet. Dieses Erlebnis war eine Offenbarung für mich“, erklärt Jeremy Deller der taz.

Furcht vor der Sturm-und-Drang-Gefühlswelt

Die Tonspur verzichtet auf Kommentare zum Geschehen. In „Wir haben die Schnauze voll“ zu hören sind Ausschnitte aus dem ersten und dem finalen vierten Satz von Beethovens Siebter und das Klopfen des Dirigenten-Taktstocks. Umso drastischer wirkt es, wenn das Orchester mit Wucht einsetzt. Die fließende Vorwärtsbewegung der Streicher, der leidenschaftliche rhythmische Schwung wird anschaulich. Die Siebte ist kein Gassenhauer wie die Neunte Sinfonie oder die „Hammerklaviersonate“, aber sie hat vor allem im Finale jene stürmische Expressivität, für die Beethoven berühmt wurde. Das Künstler­ego des Komponisten schwingt immer mit, Emotionen sind in der Siebten zum musikalischen Drama verarbeitet und in einzelne Töne wie eingraviert.

Jeremy Deller erinnern Beethovens Widmungen und versteckte humanitäre Botschaften in der Musik wiederum an das Werk des britischen Dichters, Malers und Frühsozialisten William Morris: „Beide sagten sich vom Adel los, der sie finanzierte. In beiden stecken progressive politische Ideen, ein Impetus, politische Verhältnisse zu ändern, dem vermeintlichen Schicksal der eigenen Herkunft etwas entgegenzusetzen.“

Vor Beethovens musikalischer Sturm-und-Drang-Gefühlswelt fürchtet sich Deller, zumindest ein bisschen. „Als mittelalter Engländer gestatte ich mir keinerlei Emotionen. Ich halte sie regelrecht unter Verschluss. Wenn meine künstlerischen Arbeiten Gefühle evozieren, versuche ich der künstlerischen Arbeit stets neutral zu begegnen. Gefühle haben darin nichts verloren.“

„Wir haben die Schnauze voll“ ist emotionsgeladen. Das liegt vor allem an den Kindern und deren furchtlosem Umgang mit der mächtigen Musik. Beethovens Einbeziehung von der Natur, sein Freiheitsgedanke, mit dem er das ganze Komponistenleben über rang, abgeleitet von den Prinzipien der Französischen Revolution, die dem Komponisten wichtig waren, imponieren Deller. Der Brite kannte die Siebte Sinfonie nicht, hatte zwar spezifische Bilder zu Beethovens Musik im Kopf, übermittelt durch deren inflationären Einsatz in Filmen.

Die Pianistin als Zombie

Dellers Versuch, ohne vorgefasste Meinung mit Beethovens Siebter wie mit einer weißen Leinwand zu arbeiten, scheiterte zunächst. Die Ausgangsidee, Kinder bei der Probe zu beobachten, hat er verworfen. „Beethovens Musik ist weltumarmend, sie gibt mir das Gefühl, lebendig zu sein, und je mehr ich sie gehört habe, desto klarer wurde mir, dass das Engagement der Kinder für Fridays for Future mit ins Bild gehört, dass die Musik aus dem Raum der Probe hinausweist auf etwas Größeres.“

1970, beim letzten Beethoven-Jahr zu seinem 200. Geburtstag gab es auch einen Auftragsfilm, „Ludwig van“, gedreht vom argentinisch-deutschen Komponisten Mauricio Kagel. Die filmische Collage sorgte bei ihrer Uraufführung für einen Skandal. Nicht weil Kagel bildende Künstler wie Dieter Roth und Joseph Beuys zeigt, wie sie sich die Räume von Beethovens Wohnhaus in Bonn quasi als Atelier aneignen. In einer Szene ist auch der Geist der 1968 verstorbenen Pianistin und Beethoven-Interpretin Elly Ney zu sehen, dem beim Spiel von der „Hammerklaviersonate“ wie einem Zombie immer längere Haare wachsen, die irgendwann den Flügel überwuchern. Es war Kagels bissiger Kommentar zur offenen Nazi-Sympathie der Musikerin.

„An das Beethoven-Jahr 1970, habe ich keinerlei Erinnerung, da war ich noch zu jung“, sagt der 53-jährige Deller. „Wer weiterdenkt, könnte auf die Idee kommen, dass 2020 womöglich das letzte Beethoven-Jubiläumsjahr gefeiert wird. Wir sollten ihn also gebührend feiern. Gibt es in 50 Jahren überhaupt noch unseren Planeten?“ Der Bewegungsdrang der Kinder im Film macht Hoffnung, dass das klappt. Sie rennen nicht nur ums Orchester, sie rennen auch mit Wonne zur Fridays-for-Future-Demonstration.

„Jedes Zeitalter hat seinen eigenen Faschismus“

„Putin’s Happy“, Dellers anderer, in Bonn zu sehender Film, ist da schon düsterer. Mit dieser Langzeitbeobachtung hat der Regisseur über Monate hinweg Demonstranten am britischen Parlament in London zu ihren Ansichten befragt, er zeigt ihren politischen Protest, lässt sie reden. Brexit-Befürworter und -Gegner. Einer von ihnen ist Orchestermusiker, neben einer EU-Fahne spielt er Beethovens „Ode an die Freude“, orchestriert von Dauerregen und heftigen Windböen klingt es nicht sehr optimistisch.

Jeremy Deller: „Wir haben die Schnauze voll“, Kunstverein Bonn, bis 26. April

„Auf der anderen Straßenseite sitzen Politiker wie ­Jacob Rees-Mogg und Nigel Farage, die ihre Auftritte im Parlament gestalten, als seien sie eine Comedy-Show. Mich erinnert ihre mediale Inszenierung an den Faschismus. Nicht, dass sie braune Uniformen haben, sie tragen die gleichen Anzüge wie Leute aus der Mittelklasse, aber sie stiften diese Leute an, sich eine faschistoide englische Identität zuzulegen.“

In „Putin’s Happy“ ist eine Pro-Brexit-Demonstration der ultrarechten National Front zu sehen, Hooligans, Nazis und Verschwörungstheoretiker laufen mit. Im Film bringt Deller ein Zitat von Primo Levi unter: „Jedes Zeitalter hat seinen eigenen Faschismus.“ Gut, dass „Putin’s Happy“ zusammen mit „Wir haben die Schnauze voll“ zu sehen ist.

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