Vor leeren Stühlen

PROZESS Beim ersten Verhandlungstag am Landgericht Aurich gegen Lenas mutmaßlichen Mörder ringen Richter und Anwälte darum, wie viel Publikum vertretbar ist – und schließen die Öffentlichkeit aus

Die Rücksicht auf die Familie von Lena geht über das Interesse der Öffentlichkeit

Sie sind früh aufgestanden, um den Jungen zu sehen, der Lena in Emden ermordet haben soll. Halb sieben zeigt die Uhr am Turm des Auricher Schlosses, unter dem bereits 15 Menschen vor dem Tor zum Landgericht warten. Eine Stunde später sind es schon dreimal so viele. Sie alle wollen auf einem der 50 Plätze sitzen, wenn der Prozess gegen David H. um neun Uhr beginnt.

Absperrgitter teilen die Wartenden in Pressevertreter links und übrige Zuhörer rechts. Während links angeregtes Geplauder herrscht, ist die Stimmung rechts zwiegespalten. Einige sind aus Neugier aus Emden und Aurich gekommen, andere wirken persönlich betroffen. „In was für einem Aufzug hier einige erschienen sind“, sagt eine Frau im schwarzen Blazer, die sich später im Gerichtssaal mit geröteten Augen an ein Taschentuch klammert. Als der Richter das Publikum für eine Beratung aus dem Raum schickt, bleibt sie stocksteif stehen und versucht einen Blick auf das Gesicht von David H. zu erhaschen. Ihre Begleiterin schiebt sie mit den Worten „Ich will ihn doch auch sehen, aber das nützt doch jetzt nichts“ aus dem Saal.

Nachdem der 18-jährige Angeklagte die Kapuze abgesetzt und den Aktenordner vor seinem Gesicht gelüftet hatte, sitzt er blass vor dem Vorsitzenden Richter Werner Brederlow. Auf Fragen zu seiner Person antwortet er knapp, mit ruhiger Stimme. Brederlow beginnt mit einer Schweigeminute, „damit wir uns alle des tragischen Grundes, weshalb wir hier sind, bewusst werden“.

In den nun folgenden dreieinhalb Stunden muss das Publikum insgesamt vier Mal den Saal verlassen. Mehrere Anträge auf Ausschluss der Öffentlichkeit werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt. Ebenfalls nicht für Publikumsohren bestimmt sind Teile der Anklage – die Details des Mordes und der Vergewaltigung an Lena.

„Lebenslang sollte der kriegen“, sagt eine junge Zuschauerin, die mit einer Gruppe Gleichaltriger in der letzten Reihe sitzt. Sollte David H. vom Gericht als Erwachsener eingestuft werden, ist diese Strafmaß realistisch. Kommen die drei Richter und zwei Schöffen mithilfe der psychologischen Gutachten zu dem Schluss, dass er noch als Jugendlicher zu bestrafen ist, ist das höchste Strafmaß zehn Jahre. Bis es zu dieser Entscheidung kommt, werden an voraussichtlich neun Verhandlungstagen Zeugen, Angehörige, Psychologen und Polizeibeamte aussagen – ohne Zuschauer. Die dürfen erst zur Urteilsverkündung wiederkommen. Zu viele Details aus dem Umfeld des Angeklagten und des Opfers würden laut Brederlow besprochen. Die Rücksicht auf Lenas Familie und die Entwicklung des Angeklagten gehe hier über das Interesse der Öffentlichkeit. NANTKE GARRELTS