Opposition in Russland: Justiz-Farce geht weiter

Der Menschenrechtler Juri Dmitrijew steht ab Montag wieder vor Gericht. Der Historiker wird der Her­stellung von Kinderpornografie beschuldigt.

Anstecker mit einem Foto und der Aufschrift: Freiheit für Juri Dmitrijew

Anstecker mit der Aufschrift: Freiheit für Juri Dmitrijew Foto: Igor Podgorny/imago

MOSKAU taz | Drei Jahre sitzt Juri Dmitrijew im karelischen Petrosawodsk bereits in Untersuchungshaft. Dem russischen Historiker und Leiter des Memorial-Büros, das sich der Aufarbeitung des Terrors in der Stalinzeit im Norden Russlands verschrieb, wird seit Ende 2016 wegen des Verdachts der Herstellung von Kinderpornografie in Haft gehalten. Am heutigen Montag wird der Prozess, der politisch motiviert ist, in Petrosawodsk fortgesetzt.

Dmitrijew ist ein penibler Wissenschaftler. Seit mehr als 30 Jahren spürt er den Opfern der Stalinzeit nach. Dabei entdeckte er Sandarmoch, ein Waldstück im Hohen Norden, wo zwischen 1937 und 1938 an die 10.000 Menschen erschossen und verscharrt wurden.

Darunter waren viele Ausländer, Polen, Finnen und Ukrainer. 1997 weihte Dmitrijew dort eine Gedenkstätte ein.

Im April 2018 wurde der Historiker vom Stadtgericht in Petrosawodsk bereits einmal freigesprochen. Für Russland ein höchst ungewöhnlicher Fall, da ein Verdächtiger in 99 Prozent der Fälle damit rechnen muss, auch verurteilt zu werden. Der Staat kann sich schlicht nicht irren, so die Annahme.

Unerlaubter Waffenbesitz

So wurde der ungewöhnliche Freispruch im Juni vom obersten Gericht der Republik auch wieder aufgehoben und ein neues Verfahren eröffnet. Die Pornografieanklage stützte sich auf Fotos, die Dmitrijew im Laufe mehrerer Jahre von der Pflegetochter angefertigt hatte. Zwischen sieben und vier Jahren waren die Aufnahmen alt. Sie sollten den Gesundheitszustand des Mädchens vor dem Jugendamt dokumentieren.

In 99 Prozent der Fälle muss der Verdächtige mit Verurteilung rechnen

Es kränkelte und war schwächlich, als es zu ihm kam. Dmitrijew wuchs selbst als Heimkind auf. Als weiteren Anklagepunkt führte das Gericht unerlaubten Waffenbesitz an. Es fand sich ein abgesägtes, aber funktionsuntüchtiges Gewehr in der Wohnung, das Dmitrijew Jugendlichen abgenommen hatte.

Im ersten Prozess erstellte eine Expertengruppe vom „Zentrum für soziokulturelle Analysen“ das Gutachten. Doch gehörten der Gruppe weder Kinderpsychologen noch Sexualwissenschaftler an. Von der Verteidigung bestellte Experten nannten die Untersuchungen unseriös. Ein zweites Gutachten im Auftrag des Gerichts kam zu dem Schluss, es handele sich nicht um kinderpornografische Fotos.

Das „Zentrum“ war schon zuvor durch Gefälligkeitsgutachten in politisch motivierten Verfahren aufgefallen. Im Falle der Punkband Pussy Riot etwa oder in einem Prozess gegen Zeugen Jehovas, wo es um die Verletzung der Gefühle von Gläubigen ging.

Prozess als Auftragsarbeit

Im zweiten Verfahren kehrt das oberste Gericht nun zu den Aussagen des „Zentrums“ zurück und erweitert die Anklage um „sexuellen Missbrauch ohne Gewaltanwendung an einem Kind unter 16 Jahren“.

Sollte Dmitrijew verurteilt werden, drohen ihm mindestens 20 Jahre Lagerhaft. Angeblich fürchtet er weniger die Haft als die Behandlung von anderen Gefangenen. Vermeintliche Sexualstraftäter sind für sie der Abschaum unter den Mitinhaftierten.

Dass es sich bei dem Prozess um eine Auftragsarbeit handelt, wird seit der ersten Verhandlung vermutet. So waren die Fotos der Tochter lediglich auf Dmitrijews Computer gespeichert. Er war damals aus fadenscheinigen Gründen von den Behörden einbestellt worden. Ein Eindringling lud währenddessen die Fotos herunter, die dann gegen ihn verwendet wurden.

Nach dem ersten Freispruch wurde der Kontakt zur Pflegetochter unterbunden. Weder Dmitrijew, Freunde noch Familienangehörige konnten mit ihr sprechen. Sie soll bei der Großmutter untergekommen sein.

Keine Beförderung

Die Justiz rollte den Prozess noch einmal auf. Interviews mit der Pflegetochter sollen nun Auffälligkeiten und Missbrauch belegen, obwohl zwei Jahre Ermittlungen bereits zu einem Freispruch geführt hatten.

Auffällig ist: Die Richterin, die Dmitrijew freigesprochen hatte, wurde seither nicht mehr wie erwartet auf einen Posten am obersten Gericht der Republik Karelien befördert. Auch die Staatsanwältin schied nach dem Freispruch aus dem Dienst aus und wechselte in die Privatwirtschaft. Beide wurden für die weitere Fallbehandlung aus dem Verkehr gezogen.

Aufarbeitung der Stalinzeit war nie ein besonderes Anliegen des offiziellen Moskau. Inzwischen macht der Kreml keinen Hehl mehr aus der Ablehnung der NGO Memorial, die als „ausländischer Agent“ gelistet ist und landesweit mit harten Geldstrafen überzogen wird.

Stalin als Bezugspunkt staatlichen Selbstverständnisses hat unter der Ägide von Präsident Wladimir Putin an Bedeutung zugenommen. Gedenken an Opfer auch anderer Nationen passt nicht zum Diskurs russischer Besonderheit.

Die Russische Militärhistorische Gesellschaft führte kürzlich auch Grabungen in Sandarmoch durch. „Sterbliche Überreste von Häftlingen finnischer Konzentrationslager“, die zwischen 1941 und 1944 ums Leben kamen, will sie entdeckt haben. Der Nachweis dürfte wissenschaftlichen Kriterien nicht standhalten.

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