Konsens statt Streit

Beim Mehrheitsprinzip würden zu viele Leute übergangen, sagt der Autor Erich Visotschnig. Um das zu ändern, hat er die Methode des „systemischen Konsensierens“ entwickelt

Illustrationen: Aletta Lübbers

Interview Annette Jensen

taz am wochenende: Herr Visotschnig, in der öffentlichen Debatte wird die Gefahr für die Demokratie heute im Populismus und in rechten Tendenzen verortet. Sie sehen sie anderswo?

Erich Visotschnig: Ja. Umfragen belegen, dass ein Großteil der Wählerinnen und Wähler ihr Kreuz inzwischen bei der Partei machen, die sie als das kleinste Übel sehen. Das ist eigentlich entsetzlich, dass sich in der Demokratie sehr viele Leute für etwas entscheiden müssen, was sie als Übel bezeichnen. So entsteht Populismus. Es gibt eine große Menge von Protest- und Nichtwählern, die sich von den etablierten Parteien nicht vertreten fühlen. Der Wunsch mitzubestimmen ist ein zutiefst demokratischer Wunsch, und der wird in der repräsentativen Demokratie nicht verwirklicht.

Die Piraten haben versucht, die politischen Prozesse zu öffnen. Da wurde aber schnell klar, dass die meisten Leute gar keine Zeit und Lust haben, sich mit all den Fragen zu beschäftigen.

Es ist niemandem zuzumuten, sich mit allen Dingen beschäftigen zu müssen, über die die Politik entscheidet. Aber es ist Menschen zuzutrauen, dass sie mitbestimmen können bei Fragen, die sie interessieren. Natürlich wird es weiter Abgeordnete geben – und wenn sich niemand für eine politisch zu entscheidende Frage interessiert, dann entscheiden diese. Aber wo sich Bürger einbringen wollen, sollten sie die Möglichkeit haben, das fair gewichtet zu tun und auch selbst Vorschläge zu machen.

Sie halten auch Mehrheitsentscheidungen für ungerecht. Warum?

Mehrheitsentscheidungen sind eine Mogelpackung, wenn behauptet wird, dass geschieht, was die meisten wollen. Vielmehr geschieht das, was die größte Untergruppe will. Wenn 20 Alternativen auf dem Tisch liegen, kann die größte Untergruppe vielleicht nur 7 Prozent groß sein – und 93 Prozent werden überstimmt. Beim Mehrheitsprinzip gibt es eigentlich nur zwei Erfahrungen: Entweder ich setze mich durch, oder ich werde überstimmt. Wenn es dabei um etwas geht, was einem sehr wichtig ist, dann will niemand überstimmt werden. Also wird gestritten. Das Mehrheitsprinzip ist ein Konflikt erzeugendes Prinzip. Nicht umsonst ist von Wahlkampf, Wahlsieg, Wahlniederlage die Rede – Begriffe aus dem Militärjargon.

Sie haben die Abstimmungsmethode „systemisches Konsensieren“ entwickelt. Wie funktioniert sie?

Beim Mehrheitsprinzip sollte das geschehen, was die meisten wollen – beim systemischen Konsensieren soll wirklich das geschehen, was den wenigsten wehtut und dadurch die größte Tragfähigkeit besitzt. Das Erfolgskriterium besteht darin, einen Vorschlag zu machen, der die eigenen Interessen berücksichtigt, aber auch die Interessen der anderen so gut integriert, dass die mitgehen können. Man muss also versuchen zu verstehen, was die anderen brauchen, welche Bedürfnisse sie haben. Dieses Prinzip ermöglicht Zusammenarbeit, gemeinsame Kreativität und beendet das unsägliche Gegeneinander, das wir derzeit im politischen Alltag erleben.

Bitte geben Sie ein Beispiel, wie das abläuft.

Ich erklär das mal ganz simpel an einem Beispiel von vier Freunden, die gemeinsam essen gehen wollen. Drei Restaurants stehen zur Auswahl. Zwei entscheiden sich für eines, die anderen beiden jeweils für ein anderes. Wenn nun einer der vier Freunde sagt, dass ihm das Essen im ersten Lokal viel zu fett sei und es ihm danach oft schlecht werde, würde man unter Freunden eine andere Lösung suchen. Diese Art von Achtung wäre auch in der Politik sehr wichtig.

Das Beispiel ist aber sehr klein. Sie behaupten, systemisches Konsensieren ist auch auf Gemeinde-, ja sogar auf Landes-, Bundes- oder EU-Ebene anwendbar. Wie soll das gehen?

Das, was ich an dem Beispiel mit den vier Freunden dargestellt habe, ist beim systemischen Konsensieren formalisiert – und damit skalierbar. Jeder kann einen Vorschlag machen, der wird von den anderen kommentiert, und anschließend stimmen alle ab, indem sie jeweils Widerstandspunkte von null bis zehn vergeben. Null bedeutet, ich habe nichts gegen diesen Vorschlag, und zehn, ich bin total dagegen. Der Vorschlag mit den wenigsten Widerstandspunkten wird umgesetzt, weil er die größte Akzeptanz genießt. Weil es sich um ein mathematisches Verfahren handelt, ist es egal, ob vier Leute oder mehrere Millionen mitstimmen – das rechnet dann ein Computer einfach aus. In einem Versammlungsraum kann man einfach die hochgehaltenen Finger zählen.

Foto: privat

Erich Visotschnig, 80, ist promovierter Physiker und Mathematiker. 2018 erschien sein Buch „Nicht über unsere Köpfe. Wie ein neues Wahlsystem die Demokratie retten kann“ (Oekom Verlag).

Gibt es so etwas schon auf digitaler Ebene im größeren Maßstab?

Ja, auf www.acceptify.at gibt es ein solches Abstimmungswerkzeug. Für Privatpersonen und gemeinnützige Organisationen ist es kostenlos. Wenn Firmen es nutzen wollen, müssen sie zahlen, denn die Entwicklung hat Geld gekostet.

Wenn es Dutzende von Vorschlägen gibt und die auch noch von vielen Leuten diskutiert werden, verliert man aber doch schnell den Überblick …

Wir haben vielleicht eine etwas unterschiedliche Vorstellung von Diskussion. Oft ist es ja so: Jemand sagt etwas, ein anderer hält dagegen, und so entstehen Grabenkämpfe. Wir stellen uns unter Diskussion vor, dass die Vorschläge mit ihren Vor- und Nachteilen durchleuchtet werden. Die Beiträge beziehen sich immer auf den Vorschlag, nicht auf die bereits gemachten Kommentare. Insofern bekommt man am Schluss ein Abstimmungsergebnis über gut durchleuchtete Vorschläge.

Welche Fragen eignen sich überhaupt fürs Konsensieren – und welche nicht?

Ja-Nein-Fragen sind nicht gut geeignet, weil sich die Vielfalt dieser Welt damit überhaupt nicht abbilden lässt. Ja-Nein-Fragen sind wir aber gewohnt, weil das Mehrheitsprinzip eigentlich nur in diesen Fällen befriedigend arbeitet. Hier ist die Fragestellung viel wichtiger als die wirkliche Meinung der Leute, und sie bieten sich geradezu an für Manipulationen. Konsensieren braucht offene Fragen, die eine Lösungsvielfalt zulassen. Also nicht Atomkraft ja oder nein, sondern zum Beispiel: Welche Lösung gibt es, um die Energieversorgung Europas für die nächsten 30 Jahre zu sichern?

Wird systemisches Konsensieren schon irgendwo eingesetzt?

Es gibt schon zarte Ansätze. In der oberösterreichischen Gemeinde Munderfing mit gut 3.000 Einwohnern entscheidet der Gemeinderat inzwischen nach dem Prinzip, und auch Bürgerbeteiligung wird auf diese Weise organisiert.

Kommt durchs Konsensieren nicht immer ein laues Mittelmaß raus?

Ich antworte mit einer theoretischen Gegenfrage: Welchen Vorschlag würden Sie stärker ablehnen – einen, der ein Problem befriedigend löst, oder einen, der Teile des Problems ungelöst lässt? Ich nehme an, Sie würden den zweiten stärker ablehnen. Ich glaube, das gilt für beinahe alle Menschen. Die Schlussfolgerung daraus ist: Vorschläge, die ein Problem nicht befriedigend lösen, erhalten hohe Ablehnung. Konsensierte Vorschläge lösen ein Problem auf befriedigende Weise.

Eignet sich Konsensieren für jede Entscheidung?

Konsensieren macht nur Sinn, wenn Entscheidungen viele Leute betreffen und Einzelne durch die Entscheidung Nachteile haben werden. Die Wahl für eine Lebenspartnerin ist nicht durch den geringsten Widerstand zu entscheiden. Und auch der Eurovision Song Contest ist ungeeignet für die Methode, denn es geht darum, einen Sänger zu finden, der imstande ist, Säle zu füllen. Da ist es völlig wurscht, was die Leute denken, die ihn nicht mögen, denn die kommen sowieso nicht zu seinen Konzerten.

Gibt es Reaktionen aus Parteien oder Parlamenten auf Ihre Vorschläge? Denen droht schließlich Machtverlust, wenn sich Ihre Konzepte durchsetzen.

Das ist sicher eine der größten Schwierigkeiten. Auf Gemeindeebene treffen wir häufiger auf offene Ohren. Wir sind in Österreich schon von verschiedenen Parteien eingeladen worden und bekamen eigentlich immer die gleiche Reaktion: Konsensieren ist ein großartiges Werkzeug, aber nichts für die Politik. Ich gehe davon aus, dass es in den nächsten fünf Jahren noch keine große Breitenwirkung erreicht, aber im Endeffekt bin ich optimistisch, dass die Methode sich durchsetzen wird.