Demonstranten schützen sich hinter einer Plakatwand vor den Wasserwerfern

November 2019: Demonstranten schützen sich hinter einer Plakatwand vor den Wasserwerfern Foto: Fabio Bucciarelli

Massenproteste in Chile:30 Pesos, 30 Jahre

Seit Monaten wird in Santiago de Chile protestiert. Die Reichen im Norden der Stadt verstehen nicht, warum. Die Ungleichheit hat doch abgenommen?

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5.2.2020, 12:09  Uhr

Draußen, auf den ­Straßen, sieht es aus wie immer: Rucksäcke, Kopfhörer. Ein angeleinter Hund. Gehst du aber raus, musst du husten: weil über Santiago Tränengas liegt. So viel – du denkst, die Haut brennt. Und guckst du genauer hin, siehst du gebrochene Schultern, Krücken, Augenklappen.

Am 18. Oktober wurden die Fahrscheine für die Metro in Santiago um 30 Pesos teurer. Zwei Cent sind das. Statt 1,13 Dollar jetzt 1,15 Dollar. Und in Chile bricht der Aufstand aus. Das Zentrum von Santiago, der Stadt, wo 40 Prozent der Chilenen wohnen, 7 Millionen von 19 Millionen, ist jetzt nur noch Schutt, Schlick, zerbrochenes Glas.

Es ist Mitte Dezember, am Plaza Italia ist alles zu. Geschlossen und verriegelt. Einzig Schweißer arbeiten, bringen Rollläden an, schrauben Stahlplatten vor die Hotels und Läden. Stacheldraht rollen sie aus. Wie in Bagdad. Und dann setzt du dich einen Moment, und was aussieht wie eine Bank, ist ein umgestürzter Pfahl. Was aussieht wie eine rote Ampel, ist das Rot eines Feuers. Denn der Kampf wütet weiter. Tausende junger Leute mit Steinschleudern gegen schwer ausgerüstete Polizisten. Sie sind in ihren Zwanzigern, Dreißigern und sie haben keine Angst, weil sie Pinochet nicht erlebt haben. Mit Fahrradhelmen, Tauchermasken trotzen sie Geschossen.

Und plötzlich bist du da, wo es Steine regnet und Stockschläge, verkriechst dich hinter einem Schutzschild, der mal eine Satellitenschüssel war, wenn Wasserwerfer mit Ätznatron vermischtes Wasser wuchtig raushauen. Ein Mann neben dir hört nicht auf, von Marx zu reden, und ein anderer trinkt seelenruhig seine Cola weiter. Es kann aber auch sein, dass du auf dem Boden liegst, zusammengeschlagen und weggehievt auf einen Polizeilastwagen. Wer du halt gerade bist.

Das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Südamerika

Die Proteste sind die größten, die Chile erlebt, seit es wieder eine Demokratie ist. Wie in Beirut, wie in Paris, in Hongkong ist es nicht leicht zu verstehen, was die Protestierenden genau wollen. Und was ihr Plan ist. Für Rolf Lüders dagegen ist alles klar: Sie protestieren, weil sie einem Irrglauben aufsitzen. Sie protestieren, weil sie nicht kapieren, dass sie reich sind.

Rolf Lüders, 85, kennt das heutige Chile genau. Er ist einer seiner Vordenker. Finanzminister unter Pinochet, einer der Chicago Boys – Studenten des seeligen Ökonomomieprofessors Milton Friedman. Die haben Chile in den 1970er Jahren zum Testlabor für seine Theorien gemacht, daran glaubend, dass der Markt alles von selbst regelt. Und dass er sich am besten entwickelt ohne staatliche Eingriffe.

Ein halbes Jahrhundert später macht Rolf Lüders in seinem Büro in der Katholischen Universität noch die gleiche gute Figur. Und hat die gleichen Ideen. Weil die Statistiken, sagt er, jeden Zweifel ausräumen. „Wir sind die Besten.“ Chile hat ein Pro-Kopf-Einkommen von 25.798 Dollar. Das höchste in Südamerika. In den letzten Jahren sei nicht nur die Armut zurückgegangen, sagt er, auch die Ungleichheit.

Was draußen passiere, habe nichts mit Ökonomie zu tun, sagt er. „Das Einkommen der ärmsten 10 Prozent der Bevölkerung ist um 145 Prozent gestiegen. Von 20.000 auf 50.000 Pesos. Während das Einkommen der reichsten 10 Prozent des Landes zwischen 2000 und 2015 nur um 30 Prozent zunahm. Das bedeutet: Die Ungleichheit ist geringer geworden.“

Aber, sagst du, das Einkommen der Reichsten stieg von 800.000 auf eine Million. „Das ist der Fehler“, sagt er, „dass auf diese 200.000 Pesos geguckt wird. Und dass gedacht wird, das ist mehr als 30.000. Wichtig ist doch, dass du nicht mehr so arm bist. Dass 50.000 mehr ist als 20.000. Ich meine, das ist doch eine Frage der Logik“, sagt er. „Der Mathematik.“ Er sagt: „Sie verstehen mich, right?“

„Das Wachstum in Chile war atemberaubend. Gerade hat es sich etwas verlangsamt. Und schon gehen alle auf die Straße. Aber unsere Wirtschaft funktio­niert. Natürlich muss es ein paar Anpassungen geben. Das Steuerregime. Das Kreditsystem. Unser Ziel war es, Wohlstand zu schaffen: Und das haben wir“, sagt er. Weil Armut das Problem sei. Nicht Ungleichheit. „Ungleichheit schafft Vergleichbarkeit. Und damit Verbesserungen. Das ist gut. Die Linken wollen, dass alle gleich sind. Wie in Kuba. Wo sie alle gleich sind: alle gleich hungrig.“

Das Lagerhaus ist abgebrannt, ein Mann stiehlt einen Balken aus Stahl

Das Lagerhaus ist abgebrannt, ein Mann stiehlt einen Balken aus Stahl Foto: Fabio Bucciarelli

Er würde alles wieder so machen. Pinochet inklusive. „1973 hinterließ Allende eine Inflationsrate von 508,1 Prozent. Wir mussten Chile von null wieder aufbauen. Wir brauchten einen starken Mann“, sagt er.

Jetzt wird die Metro noch teurer

Unter Pinochet war der Gini-Index, der ein Maß für Ungleichheit ist und zwischen 0 und 1 liegt, in Chile am höchsten. Er lag bei 0,57. Jetzt liegt er bei 0,47. In OECD-Ländern aber liegt er um 0,3. Ungleichheit kann in der Tat prozentual abnehmen und in absoluten Zahlen steigen. Es ist, als ob sie gleichzeitig größer und geringer ist als zuvor. Und das ist es, was sie zur Kernfrage für die Protestierenden auf dem Plaza Italia macht.

Aber für uns ist es auch die Kernfrage, versichern mir die Studenten der Wirtschaftsfakultät. Es ist ein ziemlich eigentümlicher Ort: Die Hörsäle sind hier nicht nach Wissenschaftlern benannt, sondern nach Sponsoren. Unilever, Xerox. Coca-Cola. „Natürlich haben wir Ungleichheit im Fokus. Weil das die menschliche Natur ist“, sagt Camilla, eine Studentin im Nescafé-Saal. „Weil sie das Herz von allem ist“, sagt Valentina. „Sie maximiert Produktivität.“ Die Wohlhabenden seien die Vorbilder, sagt sie. Sie zeigten den Armen den Weg. „Glaubten sie, die Metro ist zu teuer? Jetzt, wo sie sie in Brand gesetzt haben, wird es noch teurer.“

Camilla bezieht sich auf die erste Protestnacht. Als 80 von 136 Metro­stationen schwer demoliert und 11 zerstört wurden. Der Schaden liegt bei über 300 Millionen Dollar. „Wenn du ein Problem hast, machst du da alles kaputt?“, fragt sie.

Die hier sprechen, sind die zukünftige Elite in Chile. Weil die Chicago Boys etwas entwickelten, das später „eine geschützte Demokratie“ genannt wurde: geschützt vor Menschen und ihrer Impulsivität. Eine Demokratie, die stattdessen Experten in die Hände gelegt wurde. Deshalb wurde in der Pinochet-Verfassung von 1980, die immer noch gilt, festgelegt, dass der Präsident die Exekutive bestimmt und einen Großteil der Legislative. Der Kongress hat nur eine untergeordnete Rolle.

Paulina und ihr Freund Rodrigo stapfen durch die Reste eines abgebrannten Lagerhauses

Paulina und ihr Freund Rodrigo stapfen durch die Reste eines abgebrannten Lagerhauses Foto: Fabio Bucciarelli

Und es kommt noch etwas hinzu: Die Privatisierung der staatlichen Unternehmen wurde von Julio Ponce überwacht, Pinochets Schwiegersohn. Für ein Drittel seines realen Werts kaufte der die SQM – das weltmarktführende Unternehmen bei der Produktion von Lithium. Der heutige Wert der Firma: 3,3 Milliarden Dollar. Ponce ist unter den 1.000 reichsten Männern auf der Forbes-Liste.

Durch die Privatisierung der Zuckerindustrie verlor der Staat 47 Millionen Dollar. Durch die Privatisierung der Stahlindustrie 160 Millionen. Durch die Privatisierung der Energieindustrie eine Milliarde.

Und ja, diese Minister sind gewöhnlich auch die Dozenten an der Uni. Und ja, sie sind auch Geschäftsleute, ziemlich oft in der gleichen Branche, für die sie politisch zuständig sind. Das sind Daten der UN, die anmerken, dass da ein Drehtüreffekt zu erkennen ist.

Wo sich Reiche und Arme treffen

Am Eingang der Uni gibt es einen Kiosk. Zusammen verdienen die drei Verkäufer 800 Dollar im Monat, und das in einer Stadt, die so teuer ist wie London. Drinnen, berichte ich, werde gesagt, es gebe keine Krise. Und dass es egal sei, ob es Arm und Reich gebe. Weil wir alle reicher seien als gestern. „Aber sie sind nicht reich“, antworten sie, „sie sind Diebe.“ Die anderen sind immer: sie. Es ist auffällig. Wenn sie die Reichen meinen, sagen die Armen nicht „die Reichen“, sondern: „sie“. Und die Reichen auch, um sich auf die Armen zu beziehen: „sie“. Als ob sie doch eine diffuse Einheit wären.

Santiago, das sind eigentlich zwei Städte. Auf der Karte gibt es eine Art Diagonale. Von Südwesten nach Nordosten. Und das Zentrum ist die Plaza Italia. Da ist der Verwaltungsbezirk und zugleich in zweifacher Hinsicht Endpunkt von Santiago, denn die Reichen wagen sich nicht weiter nach Süden und die Armen nicht weiter nach Norden: Nur hier treffen sie sich. Deshalb ist es ein Schlachtfeld.

Santiago beginnt unten links, wo wir übernachten, in einem Kiez mit dem Spitznamen Morass, dem Königreich der Drogendealer. Bist du da gelandet, kommst du nicht mehr weg. Geht man die Diagonale entlang, ändert sich die Stadt langsam. Providencia, El Golf, Las Condes, Vitacura, bis nach La Dehesa, bis zu den Reichsten der Reichsten: Und du kannst sehen, wie die Umgebung anders wird, kannst es physisch erleben. Es wird immer weniger südamerikanisch, wird immer mehr zu Mailand, Brüssel, Frankfurt. Alles aus Stahl und Glas.

Es geht aber nicht nur um die Physiognomie der Stadt, auch die Bewohner ändern sich. Irgendwann sind sie alle weiß. In El Golf ungefähr. Und das ist kein Zufall. In Chile haben Leute in den angesehensten Berufen, Anwälte, Ärzte, Ingenieure, europäische Namen: Edwards, Werner, Klein, Lyon. Hier kommen auf das reichste Prozent der Bevölkerung 33 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Und auf das reichste Zehntelprozent der Bevölkerung 19,5 Prozent. 190.000 Dollar pro Monat. Bei so einer Ungleichheit ist das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt eine bedeutungslose Zahl: Es wird durch die Extreme verzerrt. Es passt zu niemandem. Und wenn man das, was man sich mit diesem Einkommen in Chile leisten kann, analysiert, stellt man fest, dass in dem Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt Südamerikas 76,4 Prozent unter oder am Existenzminimum leben. Ihr Durchschnittseinkommen: 376.048 Pesos pro Monat. Keine 500 Dollar.

Die Krise in Chile ist die Krise der Mittelklasse. Ihr Einkommen ist zu hoch für Subventionen und zu niedrig für neue Kredite. Denn alles, was man hier sieht, wird auf Kredit gekauft. Wenn es nach den Chicago Boys geht, ist es am besten, wenn öffentliche Güter vom Markt bereitgestellt werden: Es muss nur garantiert sein, dass jeder Zugang dazu hat. Mit einigen Subventionen und vielen Kreditkarten. Es gibt hier nur ein sehr minimales Wohlfahrtssystem. Die Rolle des Staates wird nur darin gesehen, ein unternehmensfreundliches Umfeld bereitzustellen: Firmen investieren, produzieren, so entsteht Wohlstand. Gut, auf dem Papier zahlen die Unternehmen Steuern, als eine Art Vorschuss. Der wird dann wieder von der Steuerschuld des Unternehmens abgezogen. So kommt es, dass die Körperschaftssteuer bei null liegt.

In Chile werden nur 10 Prozent des BIPs für Wohlfahrtsprogramme verwendet, während es in OECD-Ländern im Durchschnitt 20 Prozent sind. Weil hier halt alles privatisiert ist. Wirklich alles: Bildung, Gesundheit, Renten, auch die Wasserversorgung.

Wer sich für die öffentliche Gesundheit entscheidet, stirbt

Unsere Gastgeberin, Cecilia Arévalo, hat einen Bachelor in Pädagogik. Ihre Studiengebühren betrugen 28.000 Dollar im Jahr. Ihre Mutter hat sich gerade einer Nierenoperation unterziehen müssen. Kostenpunkt: 7.000 Dollar. „Im öffentlichen Krankenhaus hätte es 2022 ein freies Bett gegeben.“

Der Staat, sagt sie, biete alles, „aber wenn Sie sich für öffentliche Bildung entscheiden, lernen Sie kaum, zu schrei­ben. Wenn Sie sich für die öffentliche Gesundheit entscheiden, sterben Sie.“ Bevor die Psychologin der Schule, an der sie arbeitet, nach Hause fährt, öffne sie den Kofferraum. Um ihr Gehalt aufzustocken, verkaufe sie Schuhe. Hier hat jeder einen zweiten Job.

Geschäftsleute und Glasgebäude

Alltag in Providencia, einem der reichsten Viertel von Santiago Foto: Fabio Bucciarelli

Es ist nicht wegen der 30 Pesos. Es wegen der 30 Jahre. 30 Jahre, seit Pinochet weg ist, und nichts hat sich geändert. Weil eine Verfassung im Weg steht. Eine, in der von sozialen Rechten nichts steht. Und eine, die dem Präsidenten die ganze Macht gibt: Sebastián Piñera. Er ist einer der fünf reichsten Chilenen.

Zurück im Süden Santiagos: Von außen sehen die Häuser normal aus. Aber eigentlich sind sie aus Spanplatten. Aus Verpackungsmaterialien. La Pintana hat 178.000 Einwohner. Ein Café, ein Geschäft. Und nichts sonst. Seine Straßen sind Flohmärkte. Wo die Leute alles verkaufen, was sie haben. Ein Kapuzenpulli, eine Mikrowelle, eine Playstation aus der guten alten Zeit. Von hier aus ist Santiago eine andere Welt.

Plötzlich lebst du im Zelt, das für den Urlaub gedacht war

Und abends kommt dann ein Soziologe von der Plaza Italia, um in einem kleinen Hinterhof unter einer Laterne Chile zu erklären und das, was daran falsch ist. Und es ist wieder Allendes Chile. Da sind diese mageren Jugendlichen, die dir, solltest du ihnen tagsüber in dieser Gegend begegnen, wahrscheinlich Angst machen. Jetzt sitzen sie hier mit Stift und Notizbuch und hören zu. Weil sie einst alle Studenten waren, die Universität mussten sie abbrechen, weil sie zu teuer war. Und jetzt zitieren sie Weber, Orwell, Foucault. Piketty und reichen Chips rum. Für die meisten ist es das Abendessen.

Paulina Barria und ihr Freund sind 21 und 24. Sie leben in einem Erdloch am Straßenrand. Obwohl sie wie du aussehen. Mit ihren Nike-Sneakern. Ihren Tattoos. Sie hat eine Missbrauchsgeschichte und will nicht nach Hause, er ist Elektriker und hat sich an der Hand verletzt: Man verliert seinen Job hier und dann sein Haus. „Weil du allein bist“, sagt sie. „Und ohne Sicherheitsnetz. In Chile geht es einem nur so lange gut, wie es einem gut geht“, sagt sie. Weil man so wenig verdient, dass man immer auf der Kippe steht. Und in der ersten Not findet man sich am Lagerfeuer wieder und baut das Zelt auf, das man früher für eine romantische Nacht unter den Sternen genutzt hat.

Für die, die noch ein Haus haben, ist es nicht besser. Wie für Cindy Cerda, 25. Zu dreizehnt in drei Zimmern, vier in einem Bett. Sie leben von zwei Gehältern. Ein Mechaniker- und ein Klempnergehalt, zusammen 200.000 Pesos pro Monat. Das ist weniger als ein Mindestlohn. Über die Proteste auf der Plaza Italia sagt sie: „Ich würde gehen, wenn ich es mir leisten könnte.“

Dagegen die Reichen am anderen Ende der Stadt, da, wo alles glänzend ist. Hier hat niemand mit einem Aufstand gerechnet. „Wir haben keine Ahnung, wer sie sind. Was sie wollen“, sagt Xaviera vom „The Dog Room“, einem Geschäft für Hundezubehör.

Spiele, Kekse, Shampoo für glänzendes Haar. „Bis zum 18. Oktober war alles perfekt. Denn Santiago, sehen Sie, das ist wie Europa. Wir hatten nie Probleme.“ Es kam völlig aus heiterem Himmel. „Sie sind Kubas Marionetten. Wenn sie wirklich Chilenen wären, würden sie Chile nicht zerstören.“

Auch Carolina von „Loden Haus“, wo es alles aus Kaschmir gibt, meint, es sei nur ein Haufen Kommunisten. Versager, die ihr ihre Tochter genommen hätten. Die sei auf der Plaza Italia und protestiere um des Protestes willen. „Sie hat diese Verfassung, die sie so sehr aufregt, nie gelesen. Aber was weiß sie schon von den Armen?“, sagt sie. „Sie kommt zurück und geht mit meiner Visa-Karte einkaufen.“

Sie haben Angst vor einen Angriff der Demonstranten. Auch wenn Amnesty International wegen der 29 Toten und fast 2.500 Verletzten bisher eher Kritik an der Polizei geübt hat. Denn es stimmt, dass die Polizei nur Gummigeschosse abfeuert. Aber Gummigeschosse, die zu 20 Prozent aus Gummi und zu 80 Prozent aus Blei sind. Aus weniger als 25 Metern Entfernung können sie tödlich sein. Die Polizei behauptet, aus mehr als 45 Metern zu schießen. Nur haben ihre Gewehre keine Entfernungsmesser. „Gummi?“, so sagt man mir in „Milaires“, einer Buchboutique, „was ist das denn? Ein Spiel? Nein, das ist ein Krieg. Sie sollten echte Kugeln abfeuern.“

Eine Frau sitzt traurig schauend in der Küche, daneben ihre kleine Tochter und eine Freundin

Cindy, ihre Tochter und eine Freundin. Zusammen verkaufen sie nachmittags Pommes auf der Straße Foto: Fabio Bucciarelli

Tatsächlich gibt es Gerüchte über einen Angriff in ihrer Gegend: auf die Costanera-Mall. Das Symbol von Santiago. Das höchste Hochhaus Südamerikas. Im Gebäude hoffen sie darauf: weil es eine Befreiung wäre.

Aber wen interessiert’s?

In einem H&M, einem Zara, einem Diesel findet man nicht die Besitzer, sondern Verkäuferinnen. Alle in ihren Dreißigern. Und alle zum Mindestlohn. 300.000 Pesos, 380 Dollar. Zuzüglich einer Verkaufsprovision. „Wir sind auf die Straße gegangen, weil wir nach Pinochet geboren sind. Und keine Angst haben. Und weil wir nichts haben. Wir leben in der totalen Un­sicherheit, die die finale Konsequenz des Neoliberalismus ist: mit immer schwächeren Gewerkschaften und immer stärkeren Unternehmen“, sagten sie im „Oakley“, einem Brillengeschäft.

Wir haben nur Schulden, sagen sie. Schulden vom Studium. „Denn ja, hier bekommt man leicht Kredite. Aber zu Wucherzinsen.“ Chile hat die teuerste Ausbildung der Welt. Sie nimmt 22,7 Prozent des Haushaltseinkommens in Anspruch. „Und bis du nicht alles zurückzahlst, kriegst du keine neuen Kredite“, heißt es bei Starbucks. „Nicht einmal, um ein Telefon zu kaufen.“ Für seinen BA-Abschluss in Soziologie zahlte der Barista 6 Millionen Pesos pro Jahr, die auf 45 Millionen angewachsen sind. Das sind mehr als 50.000 Dollar.

Und wenn sie jetzt auf die Barrikaden gehen, liegt es auch daran, dass ihre Eltern ihnen nicht mehr unter die Arme greifen können: sie sind alt mittlerweile, 72 Prozent von ihnen mit einer Minimalrente. 100.000 Pesos im Monat. 130 Dollar.

Für Eduardo Steffens, 45 Jahre und Finanzberater aus dem nördlichen El Golf, spielen Zahlen keine Rolle. Am Ende sei es so einfach, sie zu manipulieren, sagt er. „Und sowieso erwähnt nie jemand, welche Rolle die Armen bei ihrer Armut spielen“, sagt er. „Sie kaufen, kaufen. Und häufen Schulden an. Und das mit Mindestrente? In Kuba würde sie nicht einmal die bekommen. Mindestrente bedeutet doch, dass sie nicht genug gearbeitet haben.“

Und Gonzalo Greg, ein Jurist ebenfalls aus El Golf, sagt: „Sie nennen die Proteste eine Form der Demokratie. Aber sie tun das Gegenteil: Sie versuchen die Demokratie zu umgehen.“ Wenn sie von Piñera die Nase voll hätten, könnten sie beim nächsten Mal doch einen anderen wählen. „Und überhaupt“, sagt er noch, „sie glauben, ihr Protest habe Einfluss auf mich. Ja sicher, unsere Kanzlei wird für eine Weile zu sein. Aber wen interessiert’s? Ich fahre in den Urlaub.“

Übersetzung: Waltraud Schwab

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