Erinnerungen an den Holocaust: Was hat Ihr Opa im Krieg gemacht?

In der Öffentlichkeit ist der Holocaust präsent. Aber wenn unser Autor mit Deutschen am Tisch sitzt, wird das Thema oft ausgeklammert.

Das Holocaust-Mahnmal in Berlin

Das Mahnmal wird hoffentlich auch in 75 Jahren noch stehen. Aber woran wird man sich dann erinnern? Foto: Michael Eichhammer/imago

Wo war deine Familie während des Kriegs? Bei meinem letzten Besuch in Deutschland, 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, lag diese Frage in der Luft. So viele Jahrzehnte sind vergangen, und doch ist diese Frage immer noch präsent. Egal ob man im Zug sitzt oder im Café. Egal ob man sich mit Kolleg*innen trifft oder mit Freund*innen. Diese Frage steht zwischen uns, den Israelis und den Deutschen, und es ist nach wie vor schwierig, ja fast bedrohlich, sie zu stellen.

Berlin hat es geschafft, die Erinnerung an den Holocaust auf würdige Art und Weise zu bewahren. Statt ihn zu leugnen, ist er in der Öffentlichkeit präsent, die schmerzhafte Vergangenheit ist ein integraler Bestandteil von Berlins pulsierender Gegenwart.

Das Messing der von Gunter Demnig verlegten Stolpersteine strahlt hell zwischen dem Kopfsteinpflaster hervor. Ich bin oft stehen geblieben, um die jüdischen Namen zu lesen, die darauf geschrieben stehen, und um zu erfahren, von wann bis wann die Menschen in der Straße gelebt haben. Lieberman, Cohen, Gross, Rosenbaum. Manchmal gibt es nur eine Gedenktafel, aber kein Haus. Und in dem Neuköllner Apartment, in dem ich damals lebte – wer lebte dort vor mir?

Selbst die Synagogen existieren noch, einige in ihrer ganzen Pracht, von anderen nur Überreste. Eines Freitags besuchte ich einen Gottesdienst in der wunderschönen Synagoge am Fraenkelufer. In Israel gehe ich fast nie in ein Gotteshaus, aber hier in Berlin war eine Andacht etwas Besonderes. Ein Gefühl von Heimat, eine familiäre Sprache, eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit. „Komm, oh Braut! Komm, oh Braut!“, sang ich laut auf Hebräisch mit und war glücklich, den Sabbat willkommen zu heißen. Meine Stimme hallte in den Stimmen der unzähligen Gottesdienstbesucher wider, die vor mir hier gebetet hatten.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Während meines Aufenthalts in Berlin nahm ich an einem journalistischen Austauschprogramm teil und freundete mich mit ein paar Deutschen an. Es wäre interessant gewesen, sie nach ihren Großeltern zu fragen, aber wir wagten es nur bei einem, und selbst da erst, nachdem wir uns schon länger kannten. Er erzählte, dass der Vater seiner Mutter während des Kriegs Polizist war, aber dass er 1941 im Kampf um Smolensk starb und dass er sonst nicht viel über ihn wisse. Sein Großvater väterlicherseits wurde nach Frankreich geschickt, um die sogenannte Siegfried-Linie, den Westwall, mitzubauen.

Welche Erinnerungen werden in 75 Jahren noch übrig sein?

Bei meinem zweimonatigen Aufenthalt wurde ich oft nach meiner Familiengeschichte gefragt. Ich erzählte von meinen Großeltern väterlicherseits, Gershon und Hasha, die aus Polen flohen, als es 1939 von den Deutschen besetzt wurde. Mit vier Kindern legten sie mit Pferd und Wagen mehr als 6.000 Kilometer zurück, bis sie in den Osten von Kirgistan gelangten, wo mein Vater geboren wurde. Nach dem Krieg gingen sie nach Polen zurück, und 1956 wanderten sie nach Israel aus.

Ich erzählte auch von meinen Großeltern mütterlicherseits, Isaac und Halina, die beide das Kon­zen­tra­tions­lager überlebten. Mein Großvater war in Auschwitz gewesen, meine Großmutter in Bergen-Belsen. 1950 emigrierten sie nach Israel. Meine Familie weiß nur wenig über die Erlebnisse meiner Großmutter während des Holocaust. Wir hatten zu viel Angst gehabt, sie danach zu fragen. Wir wollten sie nicht verletzen, und wir wollten nicht verletzt werden. Meine andere Großmutter, Halina, ist noch am Leben. Sie ist 97 und lebt in Ra’anana. Es scheint, als hätte sie beschlossen, glücklich zu sein, obwohl oder gerade weil sie so viel durchgemacht hat.

Im Zeitalter von Fake News, in dem die Wahrheit oft angezweifelt wird, frage ich mich, was von der Erinnerung an den Holocaust in weiteren 75 Jahren noch übrig sein wird. Ich werde dann nicht mehr leben, um von meiner Großmutter erzählen zu können. Davon, wie sie uns, ihren Enkelkindern, von den britischen Soldaten erzählte, die sie aus dem Kon­zen­tra­tions­lager Bergen-Belsen befreiten, als sie bis auf die Knochen abgemagert war. Und ich werde nicht mehr von meinem Großvater erzählen können, der seine erste Frau und seine Tochter im Krieg verlor.

Die Stelen des Holocaustmahnmals in Berlin aber werden vermutlich auch dann noch als offene Wunde im Herzen von Berlin stehen. Damit sie nicht verstummen und sich die israelisch-deutschen Beziehungen weiter vertiefen, müssen wir uns, auch wenn es schwierig und schmerzhaft ist, gegenseitig fragen: „Wo war Ihre Familie während des Kriegs?“

Übersetzung: Anna Fastabend

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.