Plädoyer für aufgeklärten Konservatismus: Der AfD das Konservative klauen

Die aktivistische Generation besinnt sich auf Werte der alten Mittelschicht. Dazu gehört Verzicht, Verantwortung und Gemeinwohlorientierung.

eine Zeichnung dreier Menschen

Politisch wird die subjektive Identitätsbildung erst, wenn sie ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt hat Illustration: Katja Gendikova

Ein grauer Dresdner Novemberabend: „Was ist konservativ?“ lautete der Titel einer Podiumsdiskussion, ausgerichtet von der ultrarechten, in Gründung befindlichen Spengler-Stiftung. Beteiligt waren drei führende, allesamt männliche AfD-Politiker, ergänzt um den bundesweit bekannten neurechten Verleger Götz Kubi­tschek. Auch der Moderator und Cellist Matthias Moosdorf ist seit 2016 Mitglied der Blauen.

Seit der Ankündigung dieser Veranstaltung auf Kubitscheks Webseite sezession.de, die sich als „bedeutendste rechtsintellektuelle Zeitschrift in Deutschland“ versteht, war ich elektrisiert; hin- und hergerissen zwischen Neugier und Wut. Wütend war ich, weil sich die Herren einen besonders symbolträchtigen Ort ausgesucht hatten, der klischeehaft der Vorstellung eines bürgerlichen Salons entspricht: den Festsaal des Dresdner Pianosalons im rekonstruierten Coselpalais, vis à vis der Frauenkirche.

Die selbstbewusste Neue Rechte hatte damit neben Straßen und Plätzen (Pegida) auch die prachtvollen Paläste der Barockstadt erobert; rund 150 Gäste sind zudem für derartige Veranstaltungen eine ganze Menge. Aber besonders ungehalten war ich, weil mir eben ein Begriff geklaut wurde, der mir nicht gleichgültig ist. Ja, ich bin ein Konservativer – dazu gleich mehr! Die Veranstaltung verlief ohne große Aufreger.

Klar, diese fünf Politprofis auf dem Podium sind auch gebildete Intellektuelle, die durchaus anregend und eloquent einen Abend durchplaudern können. Im Kern war der Ertrag aber ziemlich mager und vorhersehbar. Wenn man sich am homogenen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts orientiert und ansonsten überall Verschwörungen und Dekadenzphänomene – vom charakterlichen Elitenversagen bis zum „Bevölkerungsaustausch“ – wittert, ist ein radikaler Kulturpessimismus die logische Konsequenz.

Anstelle einer hypermoralischen Cancel Culture, die Rechten lediglich einen Opferstatus verschafft, wäre es viel intelligenter, sich als Patriot zu positionieren

Der Protest der Antifa fiel kläglich aus. Am Schluss hörte man ein paar dünne „Nazischweine“-Rufe, doch privater Sicherheitsdienst und Polizei hatten die Lage zu meiner Erleichterung fest im Griff. Seltsam, wie sich die Blickrichtung verschiebt, wenn man selbst Teil einer solchen Veranstaltung ist; niemand hat schließlich Lust, zwischen die Fronten zu geraten. Kubitschek lieferte im Nachgang seine eigene Deutung der Ereignisse:

AfD-Politiker diskutieren: „Was ist konservativ?“

Bert Kirsten, der Inhaber des Pianosalons sah sich demnach „Droh- und Protestschreiben der Antifa“ ausgesetzt. Das ist sicher übertrieben. Wir sind schließlich in Dresden, nicht in Kreuzberg oder Connewitz. Mir schreibt Kirsten lediglich von „Belästigungen“ seiner Mitarbeiter; tatsächlich haben sich wohl auch einige seiner eigenen Kunden im Vorfeld kritisch über die Zusammensetzung der Runde geäußert. Natürlich erkenne ich die rechte Skandalisierungsabsicht, die gleich vom „linken Meinungsterror“ schwadroniert.

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Ich bin aber kein investigativer Journalist, der „rechte Netzwerke“ aufdeckt. Mir liegt vielmehr daran, dass ein charismatischer Macher wie Kirsten nicht aus Solidarität mit den angeblich Geächteten ins rechte Lager überläuft. Sein Engagement für die Meinungsfreiheit ist ehrlich, der Rest ist Privatsache. „Was ist konservativ?“ Die Frage ist damit keineswegs erledigt. Im Gegenteil: Sie beginnt jetzt erst richtig spannend zu werden! Zunächst versetzt die Soziologie den Konservativen einen ziemlichen Dämpfer.

Bei Andreas Reckwitz von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) findet sich die Vorstellung der Konkurrenz zwischen einer alten traditionellen und einer neuen Mittelschicht. Letztere wird gern als kosmopolitisch und urban, als akademisch gebildet und innovativ beschrieben; sie wählt natürlich grün. Bei der alten oder traditionellen Mittelschicht gibt es dagegen eine höfliche Umschreibung für kleinbürgerliches Spießertum. Zwar ist auch sie fleißig, doch fehlt ihr das innovative Potenzial, um im globalen Wandel zu bestehen.

Ihre Werte sind einerseits traditionell, andererseits konsumistisch. Da in der Gesellschaft ein traditionelles Wertefundament zunehmend infrage gestellt wird, neigt sie zu irrationaler Elitenkritik und zum Rechtspopulismus. Angehörige der traditionellen Mittelschicht wohnen am Rande der Metropolen oder in Kleinstädten und fahren Diesel. Das Problem: Ich finde mich in diesem schematischen Dualismus nicht wieder, halte ihn sogar für falsch.

Berliner Hipster etwa zählen ganz sicher zur ersten Gruppe, und kommen trotzdem äußerst homogen rüber. Ihr Weltbild ist genauso vorhersehbar und statisch wie das eines Pegidisten – selbst ihre privaten Hobbys kennt man im Grunde schon vorher (bei Männern im Zweifel was mit Craft Beer). Wäre es da intellektuell nicht viel herausfordernder, die beiden Gegensätze in einer Synthese zu versöhnen? Arbeitstitel: Aufgeklärter Konservatismus. Historisch waren Aufklärung und Konservatismus seit jeher Gegner.

Da der Konservatismus eine Reaktion auf die Aufklärung war, konnte er sich kritisch an ihr abarbeiten. Schon um 1790 erkannten Intellektuelle wie Edmund Burke die Tendenz der auf der Aufklärung basierenden Französischen Revolution, in radikale Ideologie und Terror umzuschlagen – die „Dialektik der Aufklärung“ steht also auch in einer konservativen Traditionslinie.

Kritik hilft dem Konservatismus aus seiner Statik

Umgekehrt verhilft die aufklärerische Kritik am Konservatismus diesem aus seiner Statik, die oft darauf hinausläuft, einfach eine Ideologie zur Verteidigung überkommener Machtverhältnisse zu sein: Patriarchat, Kapitalismus, Kolonialismus.

Betrachten wir nun die beiden besonders umstrittenen Felder konservativer Profilierungsversuche, wie die Heimat- und Leitkulturdebatte. Zunächst einmal ist es schlicht peinlich, solche komplexen Phänomene auf Listen zu reduzieren, in denen vom Brauch des Händeschüttelns bis zu Goethes „Faust“ ein paar lose Versatzstücke zusammengetragen werden. Und wie „Nationalromantiker“ à la Björn Höcke mit ein paar kitschigen Bildern von Burgen und deutschem Wald eine ungetrübte Idylle suggerieren.

Politisch wird die subjektive Identitätsbildung nämlich erst dann, wenn sie ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt hat. Andererseits hätten sich sicher viele Ostdeutsche eine Leitkulturdebatte nach 1990 gewünscht; damals wurde man lediglich auf das Grundgesetz, den Rechtsstaat und die soziale Marktwirtschaft verwiesen, die durch einen formalen Rechtsakt über Nacht auf einmal Gültigkeit auch für 16 Millionen Ostdeutsche erlangten. Und was für Ostdeutsche gilt, dürfte auch bei Migranten nicht falsch sein.

Immerhin hat jetzt sogar die CSU einen ersten muslimischen Bürgermeisterkandidaten! Verschiebt man nun die Debatte über die Leitkultur vom (imaginären) Ursprung zu einer offenen Zukunft, entfaltet sie plötzlich eine ganz neue Dynamik. Niemand „besitzt“ einen exklusiven Anspruch auf Identität und Heimat, denn diese sind selbst Gegenstand offener Aushandlungsprozesse. Stopp! Womöglich gehe ich jetzt doch etwas zu weit.

„Aushandeln“ klingt nach Hippie-Kommune und Putzplan oder dem Jargon linker Politikwissenschaft, wo dann natürlich auch das „solidarisch“ nicht fehlen darf. Konservativ ist das eigentlich nicht. Aufgeklärt konservativ wäre der Versuch, maximale Freiheit mit Gebundenheit zu kombinieren. Gegenüber den Utopien des rein Wünschenswerten bedeutet das, dass gewisse Grundparameter des kommunikativen Handelns bereits vorliegen: also das Grundgesetz zum Beispiel, die deutsche Sprache und die kulturelle Tradition.

Und ja, auch Burgen und deutscher Wald existieren ja wirklich. Eher habituell konservativ ist die von Andreas Reckwitz zuletzt geforderte „Kultur der emotionalen Abkühlung“. Dies gilt nicht nur für Highperformer, die einzig in intensiven Momenten so etwas wie Lebenssinn erkennen, sondern auch für Trolle in sozialen Netzwerken. Leider gilt sie auch für linke Aktivisten wie Philipp Ruch, dessen Anfang Oktober in der taz veröffentlichte apokalyptische Fixierung auf 1933 die Kehrseite zu rechten Bürgerkriegsfantasien bildet.

Anstelle einer hypermoralischen Cancel Culture, die Rechten lediglich einen Opferstatus verschafft, wäre es viel intelligenter, sich als Patriot zu positionieren. Nicht nur aus Blödelei und Lust an der Provokation, sondern auch um zu signalisieren, dass man sich dieses Land nicht einfach wegnehmen lässt! Doch was heißt das nun für aktuelle Megathemen wie beispielsweise den Klimawandel?

Positionierung als Patriot statt Cancel Culture

Es ist unbestritten, dass wir unseren Lebensstandard senken müssen, doch staatliche Regulierungen oder gar Verbote kommen bei den Wählern schlecht an. Aber auch die neue urbane Mittelschicht stellt ein Problem dar: Solange Verzicht einem Hype folgt, eignet er sich zur Statusbestätigung. Ohne Attila Hildmanns „Vegan for“-Kochbücher beispielsweise würden viele Neuveganer noch heute den Kult um halbblutige Steaks zelebrieren.

Doch das urban-kosmopolitische Selbstverständnis ist auf Langstreckenflüge angewiesen wie der Veganer auf Sojamilch. Die aktivistische Generation der 20-Jährigen scheint sich indes gerade auf andere Werte zu besinnen. Hier erleben Verantwortungsbewusstsein, freiwilliger Verzicht, Disziplin und Gemeinwohlorientierung eine Renaissance. Dass es sich dabei letztlich um die konservativen Werte der alten Mittelschicht handelt, taugt nicht nur als Schlusspointe.

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