Grandioses Rollenfutter für Männer

Einmalige szenische Lesung von Maxim Billers satirischem Konversationstück „Kanalratten“ in Berlin am Deutschen Theater

Von Eva Behrendt

Warum ist das Stück „Kanalratten“ noch nicht aufgeführt worden? Normalerweise reißen sich Theater um prominente Autoren: Maxim Biller ist spätestens seit den Prozessen um den autofiktionalen Roman „Esra“ (2003) bekannt (gebraucht kann man das verbotene Werk inzwischen für 420 Euro erwerben). In der TV-Sendung „Das literarische Quartett“ war Biller eine Zeit lang der Bad Cop der Kritikerrunde, bis letzten Mai untergruben seine „Moralischen Geschichten“ in der F.A.S alle möglichen bundesrepublikanischen Selbstzufriedenheiten. Seit 2008, als „Kanalratten“ entstand, hat Biller weiter fleißig plubliziert, unter anderem das Selbstporträt „Der gebrauchte Jude“ und das Opus magnum „Biografie“.

Ein Problem könnte sein, dass „Kanalratten“ ein zwar super­smartes Drama, aber doch eindeutig ein Konversationsstück ist und als solches durch einen Realismus geprägt, mit dem sich das deutsche Theater oft schwertut. Die Einheit des Ortes bleibt streng auf Wohnung und Garten von Henning Jakob Hofman (mit langem o wie in Ofen (!)) beschränkt, dem grenzenlos selbstbewussten Chefredakteur einer renommierten deutschen Wochenzeitung. Die Einheit der Zeit wird einmal gebrochen, wenn Hofman und sein übereifriger Redakteur Jobst Kallender den nach zehn Jahren aus Israel wieder nach Berlin zurückgekehrten Schriftsteller Joe Karpeles interviewen und dabei auch auf Ereignisse zurückblicken, die sich im Stück erst noch ereignen werden. Dieser Bruch ist auch deshalb gut gewählt, weil das Interview den bösen Dialogwitz der Tragikomödie inklusive ausgesprochener Antisemitismen noch einmal scharf auf den Punkt bringt.

In den Kammerspielen des Deutschen Theaters hat jetzt eine Gruppe Schauspieler um Samuel Finzi „Kanalratten“ als (leider nur einmalige) Lesung an sieben schwarzen Holztischchen auf die Bühne gebracht. Also alles im Sitzen, ein paar Blicke werden gewechselt und Haltungen probiert, aber es herrscht die Konzentration auf das gesprochene Wort. Das funktioniert so gut, dass sich die Vorstellung, das Ganze fände in Kulissen verschiedener Wohnungsräume statt, mit Umarmungen, Crackeressen und Kotzen im Garten, ziemlich schnell erübrigt.

Denn dass Biller grandioses Rollenfutter vor allem für Männer geschrieben hat, sieht man auch so. Einzig Judith Hofmann als Redakteurin Anna, Joe Karpeles’große Liebe, die mit ihm ein Kind haben wollte und wegen doppelter Aschkenasim-Gene und dem Risiko der Erbkrankheit Tay-Sachs dann lieber doch nicht bekommen hat, hat es nicht ganz so leicht als umkämpfte Trophäe: Inzwischen lebt sie – die einzige Figur ohne Profilneurose – nämlich ausgerechnet mit Hofman zusammen.

Sex ist eines der Schlachtfelder, auf denen sich deutsche Männer, Juden und Nichtjuden, hier gut sechzig Jahre nach dem Holocaust stellvertretend bekriegen. Ein anderes ist Besitz, wie etwa Hofmans Wohnung in der Treitschkestraße, die Hermann „Herschel“ Girsch (Bernd Moss), der Direktor des Jüdischen Museums, gerne seinen einst jüdischen Besitzern zurückgeben würde, denen es Hofmans Nazi-Familie gestohlen hat und an die sicherheitshalber noch nicht einmal ein Stolperstein auf dem Bürgersteig erinnert.

Kampf um Namenshoheit

Und falls das nicht klappt, gibt es immer noch den Kampf um die Namenshoheit: Während Hofmans Zeitung dreist vorschlägt, das Jüdische Museum umzubenennen in „Deutsches Museum jüdischer Geschichte bis 1941“, setzt Girsch sich für die Umbenennung der Steglitzer Treitschke- in Anne-Frank-Straße ein – real hat diese Umbenennung in vielen deutschen Städten stattgefunden, aber nicht in Berlin, wo der deutsche Historiker Heinrich von Treitschke 1879 mit dem fatalen Satz „Die Juden sind unser Unglück“ (Karpeles macht daraus den Joke „Die Nudeln der Juden sind unser Unglück“) den Berliner Antisemitismusstreit auslöste und später zum Stürmer-Schlagwort wurde.

Leider reiben sich Karpeles, den Finzi kunstvoll vernuschelt, schlagfertig und erschöpft zugleich spielt, und Moss’ aufrichtig empörter Girsch schon untereinander auf: Joe mokiert sich über Girschs „Eierlosigkeit“ und dessen nach Mottenkugeln stinkende Gattin, der Museumsdirektor behauptet im Gegenzug, eine Affäre mit Anna gehabt zu haben. Girsch ist so depressiv, dass er sich noch im selben Stück mit Hofmans Nachhilfe das Leben nimmt. Auch auf der anderen Seite gibt es Kämpfe, doch hier siegt nackte Hierarchie: Alexander Khuons Stehauf-Streber Kallender versucht immer wieder seinen Chef zu beeindrucken, ja zu übertrumpfen, und wird von ihm wie eine lästige Fliege weggewedelt. Felix Goeser, der am DT oft fiese Machttypen spielen muss, findet auch für die Schirrmacher-Figur Hofman einen charismatischen Gestus, der nicht nur denunzierend ist.

Verblüffend aber ist vor allem, zwölf Jahre nach Erscheinen das Stück vor dem Hintergrund der identitätspolitischen Debatten im deutschsprachigen Theater zu hören (oder zu lesen). Maxim Billers „Kanalratten“ zeigen noch einmal sehr scharf die diametralen Auswirkungen von Holocaust, aber auch generell von Diskriminierungsgeschichte auf Täter und Opfer: Während die Juden nicht loskommen vom Jüdischsein, unfreiwillig und doch tragisch bewusst immer wieder darauf reduziert werden, können die Täterkinder sorglos bis zynisch mit Identitäten, auch den eigenen, herumspielen.