„Warum sollte ich nach Israel gehen?“

Zabulon Simentov ist der vermutlich letzte Jude Afghanistans, er wohnt alleine in einer Synagoge in Kabul und ist ein lebendes Stück Geschichte

Zabulon Simentov bläst das Schofarhorn, ein traditionelles jüdisches Instrument, das während des Gottesdienstes verwendet wird

Aus Kabul von Emran Feroz (Text und Foto)

Samstags in Kabul. Zabulon Simentov sitzt in seinem kleinen Wohnzimmer. Der Fernseher läuft, Nachrichten. Simentov schüttelt den Kopf und murmelt etwas vor sich hin. Normalerweise würde er auf seinem alten Gaskocher Tee kochen. Doch heute geht das nicht. Simentov, der wohl letzte in Afghanistan lebende Jude, hält nämlich den Schabbat. Auch den Fernseher hat er – wie er betont – nicht selbst eingeschaltet.

Simentov lebt in Shahr-e Naw, einem Stadtteil, der zu den besseren Gegenden Kabuls gehört. Hier gibt es nicht nur schöne Restaurants, Hochzeitshallen und westlich anmutende Cafés, sondern auch viele traditionelle Läden, Antiquitätenhändler und Kunstgalerien, die seit Jahrzehnten existieren.

Inmitten des Stadtteils befindet sich auch die „Gasse der Blumenhändler“. Sie verkaufen Tulpen und Rosen und richten sie prächtig her für Hochzeiten und andere Feierlichkeiten.

Wer die Gasse entlangläuft, landet irgendwann vor einem blauen Tor, das – wie nach genauem Hinsehen deutlich wird – mit einem Davidstern verziert ist. Hier, in der letzten intakten Synagoge Kabuls, wohnt Zabulon Simentov seit mehreren Jahrzehnten.

Den kleinen, stämmigen Mann, der stets eine Kippa trägt, kennt in seiner Gasse jeder. „Zabulon ist ein ziemlich auffälliger Typ, wir haben stets unseren Spaß mit ihm“, sagt ein junger Mann aus der Nachbarschaft. „Er ist etwas cholerisch, doch daran haben wir uns längst gewöhnt.“

Dass Simentov ein Choleriker ist, fällt tatsächlich schnell auf. Als ein paar Tage später ein Nachbar an seinem Tor klopft und ihn um etwas bitten möchte, verjagt er ihn lautstark. „Hau ab. Ich habe keine Zeit für dich, ein Journalist ist hier!“, brüllt er aus dem Fenster.

Journalisten mag Simentov. Er bittet sie meistens um eine kleine und manchmal auch etwas größere „Spende“ – und geht stets davon aus, dass sie Tausende Dollar mit seiner Geschichte verdienen würden. Wenn man nicht spenden will, möchte er wenigstens etwas Geld für den Erhalt seiner Synagoge.

Abgesehen von Spenden lebt Simentov vom Handel mit Antiquitäten und Schmuck. Doch das Geschäft läuft nicht so gut, wie er mehrmals betont.

Sein Zimmer gehört zum Gebäudekomplex der Kanisa, dem persischen Wort für Synagoge. Die übrigen Räume vermietet er manchmal. Gäste sind ihm willkommen, denn Simentov lebt hier allein. Seine gesamte Familie, einschließlich seiner Frau und seiner Töchter, ist nach Israel gezogen. Vor Jahren hat er sie dort einmal besucht, doch er wollte nicht bleiben. „Meine Heimat ist Afghanistan. Außerdem wollte ich dort nicht mehr hin, nachdem ich mich von meiner Frau getrennt hatte“, sagt er traurig.

Simentovs Einsamkeit ist offensichtlich. Seine cholerische Art wirkt so, als ob er damit seine Trauer zu verschleiern versucht. Er macht oft Witze, doch sobald es um seine Familie geht, verstummt er. Vor allem seine Töchter vermisst er.

Die jüdische Geschichte Afghanistans ist im Westen weitgehend unbekannt. Dabei gab es einst viele Juden im Land, sie waren ein zentraler Teil der Gesellschaft.

Im 12. Jahrhundert bereits berichtete der muslimische Kartograf Muhammad al-Idrisi von dem jüdischen Viertel in Kabul. Vor rund 100 Jahren lebten noch Zehntausende Juden am Hindukusch. Jüdische Zentren waren unter anderem im Westen und im Norden Afghanistans zu finden.

Die wohl wichtigste Stadt der jüdischen Bevölkerung war das westliche Herat, die Heimatstadt Simentovs. Dort gab es einst Hunderte von jüdischen Familien, die mehrere Synagogen errichtet hatten. Eines dieser historischen Gotteshäuser wurde vor einigen Jahren von der Aga-Khan-Stiftung saniert, es ist heute vor allem ein touristisches Ziel.

Die letzte intakte Synagoge, in der gelebt und gebetet wird, ist die, die Zabulon Simentov bewohnt und behütet. Erst vor Kurzem hat er den Gebetsraum renoviert und neu gestrichen. Jede Woche besteigt er zum Schabbat die kleine Kanzel und liest aus der Tora – allein.

Während es in den Nachbarstaaten wie Iran oder Usbekistan noch überschaubare jüdische Gemeinden gibt, findet Simentov niemand zum gemeinsamen Beten. Wegen seines Alleinstellungsmerkmals hat er sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag.

Dass Afghanistan den Großteil seiner jüdischen Bevölkerung verlor, lag nicht unbedingt am Antisemitismus. Zwar wurden Juden in der Geschichte des landes wirtschaftlich benachteiligt, die herrschende Klasse aber war der jüdischen Minderheit gegenüber lange wohlwollend gestimmt. Der letzte afghanische König, Mohammad Zahir Schah, behauptete sogar, ein Nachfahre des israelitischen Propheten Benjamins zu sein.

Dies hat mit einer Legende zu tun, die besagt, dass die Gründer des modernen afghanischen Staates, die Paschtunen, die Nachfahren der Verlorenen Stämme Israels seien. Wissenschaftlich belegt ist kaum etwas davon, doch auch Zabulon Simentov teilt diese Meinung.

Nach der Gründung Israels zogen viele afghanische Juden mit der Aussicht auf ein sorgenfreieres Leben in den neu entstandenen Staat. Die jüdische Auswanderung erreichte einen neuen Höhepunkt, als 1979 die sowjetischen Streitkräfte in Afghanistan einfielen. Da wussten viele, dass die Zeit zur Flucht gekommen war.

„Die Rote Armee hat in anderen zentralasiatischen Staaten schlimme Verbrechen gegen Juden begangen“, sagt Simentov. „Wir wussten das, bevor sie nach Afghanistan einmarschierte, und hatten deshalb Angst.“

„Zabulonist etwas cholerisch,aber daran haben wir uns längst gewöhnt“

Ein Mann aus der Nachbarschaft

Der letzte Zeitpunkt, an dem es eine jüdische Gemeinde in Kabul gab, war Ende der achtziger Jahre, als der kommunistische Präsident Mohammad Nadschibullāh an der Macht war. Er wurde von den Sowjets installiert, während der Kalte Krieg in Afghanistan tobte und die Rote Armee gegen die aufständischen Mudschaheddin kämpfte.

Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1989 wurde Kabul von den Mudschaheddin eingenommen. Die Regierung der Rebellen hielt allerdings nicht lange, da sie bald anfingen, sich gegenseitig zu bekämpfen. Spätestens nach der Ermordung Nadschibullāhs stand fast ganz Afghanistan unter der Kontrolle der reaktionären Taliban.

„Sowohl die Mudschaheddin als auch die Taliban haben die Kabuler Stadtbevölkerung überfallen und unterdrückt“, sagt Simentov. „Sie plünderten, mordeten, und das haben die Menschen bis heute nicht vergessen.“ Viele suchten damals das Weite.

Während die anderen das Land verließen, kehrte Simentov von einem zweimonatigen Israel-Aufenthalt zurück. Er zog abermals in seine Synagoge – er war gekommen, um zu bleiben.

Die Taliban interessierten sich anfangs nicht besonders für ihn, problematische Begegnungen gab es dennoch. Später kam Simentov für einige Zeit ins Gefängnis, wurde da verprügelt, auch seine Tora nahm man ihm weg.

Heute genießt Simentov seinen Status als letzter Jude des Landes. Vor allem in den ersten Jahren nach dem Sturz des Taliban-Regimes wurde er von zahlreichen Journalist*innen aufgesucht, allen voran amerikanischen und israelischen.

Auszuwandern kommt für ihn nicht infrage, und zwar niemals. „Ich bin Afghane. Punkt. Ich bin hier geboren und werde auch hier sterben. Warum sollte ich nach Israel gehen oder in irgendein anderes Land?“, fragt er konsequent, fast schon stur.

In Israel wäre Simentov einer von vielen Juden, der obendrein nicht Hebräisch spricht. Doch hier, in Afghanistan, ist er jemand. Ein lebendes Stück Geschichte.