Der Skispringer in dir: Irre Luftnummer

Bei einem Workshop in Oberstdorf hebt man ab wie Markus Eisenbichler und landet bei zwölf Metern. Mut und Überwindung sind Voraussetzungen.

Skispringer vor einem Berg als Schattenriss

Traum vom Fliegen Foto: Warmuth/dpa

Balken runter, setzen, Tunnelblick. Das kennt man aus dem Fernsehen, wo die Kamera dann das hochkonzentrierte Gesicht des Skispringers einfängt und in die warmen Wohnzimmer sendet. Und jetzt wartet man selbst auf so einem Balken im Oberstdorfer Skisprung-Stadion, wo jährlich im Dezember die Vierschanzentournee startet. Es ist nur eine 20-Meter-Schanze, eine Mini-Anlage für blutige Anfänger, die heute gekommen sind, um einmal den Geiger oder den Eisenbichler zu machen. Das ist natürlich übertrieben. An einem Tag kann man Skispringen nicht lernen. Aber man erlebt dieses einmalige Gefühl des Fliegens – das hat der Veranstalter des Workshops versprochen.

Voraussetzung ist, dass man sich traut, die gut 30 Meter lange, steile Anlaufspur im Schuss hinabzufahren und sich dann vom Untergrund abzudrücken. Es ist, als stünde man vor einer schwarzen Piste – mit dem Unterschied, dass niemand auf die Idee käme, sie im Sturzflug hinabzusausen. In tief gebeugter Abfahrtshocke, volle Pulle, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Bremsmanöver, ohne einen Schwung zu setzen, der die Fahrt kontrollierbar macht. Und am Ende wartet das Nichts, ein Sprung in den leeren Raum.

Man sieht den Hügel, auf dem man hoffentlich heil landet, noch nicht einmal. „Nicht nachdenken, einfach losfahren und springen“, lautet der Tipp von Lena Tümmers, die den Workshop zusammen mit ihrem Vater organisiert hat. Die junge Frau war in ihrer Jugend selbst Skispringerin, ist im zarten Alter von 15 Jahren 65 Meter durch die Luft gesegelt.

Jetzt steht sie ein paar Meter neben dem Balken und lässt ihren rechten Arm nach unten sausen. Soll heißen: starten. Auch das kennt man aus dem Fernsehen. Der Trainer senkt sein Fähnchen und die Kamera verlässt das entschlossen, souverän und selbstsicher wirkende Gesicht des Skispringers und zeigt ihn in der Totalen. Er stößt sich ab und geht sofort in die Hocke, um maximal zu beschleunigen.

Los geht die rasante Fahrt. Zwei Sekunden, die sich verdammt lang anfühlen. Links und rechts der Ski nur 30 Zentimeter Luft, dann zu beiden Seiten ein Holzgeländer. Der Platz reicht nicht einmal, um einen Pflug zu machen und das Tempo zu drosseln. Schneller und schneller, der Schanzentisch kommt bedrohlich näher.

Aufrichten und nach vorne abspringen

Vorhin auf dem Balken hat man die wichtigsten Tipps des Trainers, noch mantraartig runtergebetet: tiefe Hocke, Spannung halten, über dem Ski bleiben, im richtigen Moment aufrichten und nach vorne abspringen. Jetzt ist alles weg, wie bei einer Festplatte, die per Knopfdruck gelöscht wurde. Man ist so sehr damit beschäftigt, den kleinen Teufel zu bekämpfen, der unaufhörlich brüllt: abbrechen, bremsen, Schluss. Mit seinen Füßen tritt der fiese Kerl in die Magengrube. Dann ist die Anlaufspur zu Ende, die Beine machen wenigstens eine reflexartige Sprungbewegung und man befindet sich plötzlich in der Luft.

Peter Tümmers, Workshop-Leiter

„Nach dem Absprung erwartet Sie der totale Kontrollverlust“

Bei der Vierschanzentournee drängen sich 27.000 Zuschauer in der Arena, Millionen fiebern am Fernseher mit. „Dabei sind wir eigentlich eine Randsportart“, hat Walter Hofer, Skisprung-Renndirektor beim Internationalen Ski-Verband Fis, einmal gesagt.

Weltweit gibt es offiziell nur rund 400 Athleten, die diesen Sport professionell betreiben. Die Ausrüstung und die Sportstätten sind so speziell, dass kein Zuschauer nachmachen kann, was seine Idole so treiben. Auf dem Tennisplatz kann sich jeder wie Roger Federer fühlen, nach einem Tor beim Fußball steht es dem Schützen frei, so gockelhaft wie Cristiano Ronaldo zu jubeln. Mit ein bisschen Aufwand ist es möglich, einen Slalomparcours auf der Skipiste zu stecken, um den Hirscher zu machen. Aber Skispringen bleibt für die Fans unerreichbar.

Der WorkshopTermine auf Anfrage. Kosten: 160 Euro inklusive Leihski (Alpinski, keine Carver). Gegen Gebühr: Skischuhe, Skihelm (Pflicht). Ablauf: Treffpunkt bei einer örtlichen Skischule, Fahrt zum Stadion. Aufwärmübungen, Theorie, Praxis. Dauer: ca. 6 Stunden inkl. Mittagspause. Zuschauer erhalten Zugang durch den üblichen Eingang der Arena (6 Euro). www.ico-oberstdorf.de

Die Teilnahme wurde unterstützt von Oberstdorf Tourismus.

„Als wir angefangen haben, hat man uns für verrückt erklärt“, sagt Workshop-Leiter Peter Tümmers. „Niemand hat geglaubt, dass es geht.“ Angesichts solcher Zweifel fühlte sich einer wie Tümmers an der Ehre gepackt. Er war einer der ersten Mentaltrainer im deutschen Sport, hat die Skisprung-Asse Hannawald und Schmitt betreut, bevor er seine Firma ICO gründete und im Jahr 2000 den ersten Skisprung-Workshop durchführte. Er arbeitet vornehmlich mit Firmen, gibt Seminare, bei denen er Manager ans Bungee-Seil hängt und die Anlaufspur der Großschanze in Oberstdorf runterschickt. Es zählt zu seiner Lebensphilosophie, die „Komfortzone zu verlassen, ein Wagnis einzugehen, entscheidungsfreudig zu sein“.

Und genau das gilt auch für die Anfänger auf der 20-Meter-Schanze. Im Idealfall lernt man, zum richtigen Zeitpunkt das Gelernte abzurufen. Denn Skispringer fokussieren sich auf den einen, klitzekleinen Moment. „Im Tennis kann ich den ersten Satz vergeigen und trotzdem ins Spiel zurückfinden.“

Tümmers betrachtet Skispringen als eine Art Lebensschule. „Man probiert etwas Neues, das man sich nie zugetraut hätte, und sieht, dass es irgendwie doch geht.“ Der Skispringer trifft eine Entscheidung und zieht die Sache mit allen Konsequenzen durch. Mut und Überwindung zählen zum Wesen der fliegenden Sportler. „Skispringer sind verrückt. Nach dem Absprung erwartet sie der totale Kontrollverlust. Das muss auch jeder von euch machen, damit es klappt.“

Es sind Sätze wie diese, die einen schon während des Aufwärmens zweifeln ließen. Denn vor dem ersten Sprung gab es verschiedene Trockenübungen, um zu lernen, wie man sich richtig vom Boden abstößt. Als Tümmers merkte, dass manche seiner Sätze wie Kinnhaken wirkten, hat er relativiert.

„Nach dem Absprung schleicht ihr am Hang entlang, höchstens 50 Zentimeter über dem Boden. Bisher ist noch nie etwas passiert.“ Und trotzdem ist die Stimmung während der Aufwärmphase angespannt. Jeder versuchte, seine Zweifel zu überspielen. Einige Teilnehmer witzeln, dass sie jetzt soweit wären, von der Großschanze zu springen. Dabei jagte schon der Blick hinüber zur kleinen Schwester Ehrfurcht ein. Sie ist die kleinste von fünf Schanzen in der Skisprung-Arena in Oberstdorf und das einzige Terrain, das Anfänger wie wir betreten dürfen.

Skispringen hat eine lange Tradition im Allgäu, die erste Schanze in Oberstdorf gab es im Jahre 1910. Jedoch war die Lage ungünstig, da zu sonnig. Deswegen entstand 1925 die Schattenbergschanze, der erste Rekord betrug 35 Meter. Nach dem Krieg reifte die Idee, eine deutsch-österreichische Vierschanzentournee durchzuführen. Oberstdorf schlug zu und trug 1953 das erste Springen aus. Seither erneuerten, erweiterten und ergänzten die Allgäuer die Anlage immer wieder.

Ein Blick von oben

Die heutige Arena entstand 2003. Sie ist offen für Besucher, die mit dem Schrägaufzug nach oben fahren können, um zur Aussichtsplattform zu gelangen. Dort blicken sie auf die Anlaufspur der Großschanze und stellen erschrocken fest, wie steil es nach unten geht. Martin Schmitt, der 1999 und 2000 jeweils die Auftaktspringen der Vierschanzentournee in Oberstdorf gewann, hat die Faszination einst damit begründet, dass man eine Leichtigkeit verspüre, die mit nichts anderem auf der Welt zu vergleichen sei. „Aber diese Leichtigkeit ist hart erarbeitet. In der Luft wirken enorme Kräfte, dabei die Ski zu kontrollieren, ist alles andere als einfach.“

Das merkt man selbst bei einem Sprung von der 20-Meter-Schanze. Es ist tatsächlich ein winziger Augenblick, in dem man sich frei, schwerelos und schwebend fühlt. Ein Moment, in dem alle Schwierigkeiten weit weg erscheinen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Aber schon bald tauchen die Probleme wieder auf: Die Ski­enden hängen unkontrolliert nach unten, kratzen über den Schnee, während die Spitzen noch steil in die Luft zeigen. Dumpf und mit den Armen rudernd setzt man auf, um einen Sturz zu vermeiden. Gemessen wird erst an dem Punkt, wo die Bindung aufgesetzt hat, das beschert einem im ersten Versuch immerhin eine Weite von zwölf Metern.

Zum Glück gibt es keine Haltungsnoten, das parallel gedrehte Video zeigt nämlich ein schlaffes Flugobjekt knapp über dem Schnee. Man hat noch ein paar weitere Versuche, stapft vor jedem Durchgang tapfer die vereisten Treppen nach oben, steht an, sitzt auf dem Balken, wartet auf das Zeichen und muss doch jedes Mal seinen ganzen Mut aufbringen, um wieder Kopf voraus die Spur hinabzufahren. Manchmal erwischt man den Absprung, meist jedoch nicht. Dank Videoanalyse kann man kleine Fehler korrigieren, sich vorsichtig steigern. Am Ende stehen als Bestweite zwei 16-Meter-Sprünge. „Seit heute seid ihr Skispringer“, sagt Peter Tümmers. „Das kann euch niemand mehr nehmen.“

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