Kunst für die Komponistin Éliane Radigue: Visionärin zerdehnt die Zeit

Die Ausstellung „Infinité ∞²“ widmet sich der Synthesizer-Pionierin Éliane Radigue. Zu sehen ist sie in der Berliner Galerie „Weisser Elefant“.

eine Frau spielt auf einer Bühne auf elektronischen Geräten

Soundkünstlerin Svetlana Maraš zollt Éliane Radigue in ihrer Performance Respekt Foto: Lorenzo Pusteria

Ein Kind schießt seinen Ball am Tor vorbei, durch die Auguststraße (Berlin-Mitte) zwängt sich ein Lieferwagen, während ein Blatt nicht vom fast kahlen Baum lassen mag: Mittwochnachmittag in der Galerie Weisser Elefant, das Fenster lehnt sich ans Himmelgrau an.

Drinnen jedoch drehen sich auf einem länglichen schwarzen Tisch vier leuchtend farbige LPs, deren Endlosrillen allerhand Geräuschschleifen produzieren: Hellgrün entlockt sich ein majestätischer Glockenloop, Dunkelgrün ein Rascheln aus dem Unterholz, Korallenrot das Zischen einer Hi-Hat, Minimal-Techno nicht unähnlich. Eine sonnengelbe Platte schließlich wartet mit einem seltsam verschwommenen Pochen auf.

Die sich verzahnenden Sounds können von Besuchern selbst gemixt werden, es empfiehlt sich, Zeit mitzubringen. Kopfhörer liegen bereit, und auf einem Wandboard stehen noch weitere Platten in Braun, Blau, Orange und Weiß. Und dann ist da noch etwas: Den LPs ist neben das Mittelloch ein zweites gebohrt, abspielen lassen sie sich in allen Geschwindigkeiten, der Möglichkeiten sind viele.

„bausatz noto ∞“ hat Carsten Nicolai diese Installation genannt, sie bildet einen von insgesamt fünf Räumen der Ausstellung „Infinité ∞²“. Gewidmet ist sie der französischen Komponistin Éliane Radigue, seit den 1950er Jahren Protagonistin der elektronischen Musik. Wie Delia Derbyshire und Suzanne Ciani macht auch Éliane Radigue klar, dass der Synthesizer nicht allein den bleichen, übernächtigten Jungs gehört.

Das Enkelkind als Musikinstrument

Radigue hat bei Pierre Schaef­fer, dem Urheber der Musique concrète, und seinem Partner Pierre Henry studiert. Wie jede gute Schülerin hat sie sich irgendwann von ihren Lehrern emanzipiert, ohne sie zu vergessen. Ehrensache, dass Radigues Musik in der Ausstellung zu hören ist: In die Mitte der künstlerischen Beiträge von Cécile Dupaquier und Harriet Gross ist ein Abspielgerät platziert, auf Wunsch können die Besucher:Innen sich Radigues Komposition „Biogenesis“ anhören.

Galerie Weisser Elefant in Berlin, bis 22. Februar.

Fr, 24. Januar 2020 um 20 Uhr Live: Konzert mit Svetlana Maraš

Eine Musik, die für ihre Komponistin charakteristisch sein mag: Sie wirkt statisch, ist es aber natürlich nicht, sie dehnt die Zeit und setzt auf Langsamkeit. Radigue hat „Biogenesis“ 1973 geschrieben und realisiert, indem sie mit einem Mikrofon und Stethoskop den Bauch ihrer schwangeren Tochter und den Herzschlag ihres künftigen Enkelkinds aufnahm. Ein Jahr später wurde das Werk aufgeführt, und kurz darauf konvertierte Radigue zum tibetanischen Buddhismus. Das Abspielgerät der Ausstellung ist Teil eines adäquaten Altars.

Übrigens werden die Besucher gefragt, ob während des Anhörens die Tür zum Raum geschlossen werden soll. Eine klare Empfehlung auszusprechen, ist schwer. Einerseits leuchtet es ein, Musik von Radigue sollte möglichst konzentriert gehört werden. Andererseits empfiehlt die Komponistin, für eines ihrer Stücke zwei Abspielgeräte gleichzeitig einzusetzen.

Und hier kommt die Anlage der Ausstellung ins Spiel: Bei geöffneter Tür nämlich mischen sich die Klänge der anderen Installa­tio­nen und Objekte in Radigues Musik, und es entstehen, ähnlich Nicolais Raum, erstaunliche Überlagerungen und Verschachtelungen. Damit nicht genug, je nach Standort ändern sich die Sounds: Ein Schritt hinaus in den Flur, und unter das flächige Brummen mischt sich etwas wie ein Morsegerät in Zeitlupe.

Exklusive Stücke der Künstlerin

Wer sich zwischen die Räume von Robert Lippok und Svetlana Maraš stellt, kann ein Klangensemble vernehmen, das direkt aus dem legendären Album „Soliloquy For Lilith“ von Nurse With Wound stammen könnte, einem Klassiker der Drone-Musik. Radigue dem stilistisch zuzuschlagen ist strittig; ihr Einfluss auf die experimentellen Industrialbands von Steven Stapleton bis Coil steht fest.

Am 24. Januar feiert Éliane Radigue ihren 88. Geburtstag. Dazu erscheint auch eine CD: „Infinité ∞² – pour Éliane Radigue“ in der edition galerie weisser elefant No. 4 mit exklusiven Stücken von alva noto, Robert Lippok, Band Ane, Schloss Mirabell. Svetlana Maraš wird in den Galerieräumen ein Konzert bestreiten. Die Komponistin ist künstlerische Leiterin des Elektronikstudios von Radio Belgrad. Und das wäre die nächste Geschichte, doch sie gehört auch zu dieser hier.

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