Fußball und Boxen in Auschwitz: „SS-Leute kamen zum Zuschauen“

Die Historikerin Veronika Springmann hat über Sport im KZ intensiv geforscht: Es gab ihn als Vergünstigung und als Bestrafung.

Ehemalige Gefangene des KZ Auschwitz nach der Befreiung 1945.

Sport als Gunst und als Gewalt: Ehemalige Gefangene in Auschwitz nach der Befreiung Foto: Yad Vashem Archives/reuters

taz: Frau Springmann, gab es auch in Auschwitz Sport?

Veronika Springmann: Ja, sowohl in Auschwitz I, dem Stammlager, in Auschwitz-Birkenau, dem Vernichtungslager, als auch in Monowitz sowie den zahlreichen Außenlagern.

Welchen Sport?

In meiner Arbeit unterscheide ich zwischen Sport, den Häftlinge als Gunst erlebten, und Sport als Gewalt. Beides gab es in Auschwitz.

Was kann man darunter verstehen?

Zu Sport als Gewalt wird auch manchmal Strafsport gesagt. Das sind sportliche Praxen wie Laufen, Hüpfen, Hampelmann. Diese Übungen mussten Häftlinge bis zur Erschöpfung und oft auch bis zum körperlichen Zusammenbruch ausführen.

Soeben erschien von der Berliner Historikerin „Gunst und Gewalt. Sport in nationalsozialistischen Konzentrationslagern“ (Metropol Verlag, Berlin, Dezember 2019).

Also bis zur Erschöpfung und zur Demütigung?

Ja, dieser Sport war alltägliche Praxis in jedem KZ. Diese Form des Sports entstammt der militärischen Ausbildung und war damit auch etwas, das die Wachleute, die Häftlinge so demütigten, selbst erlebt hatten. Er gehört ja auch zur Konstruktion von Männlichkeit. Es half den SS-Wachleuten, für sich selbst eine Vergemeinschaftung herzustellen, indem die Distanz zu den Häftlingen sichtbarer gemacht wurde.

Und was konnte im KZ-System Sport als Gunst bedeuten?

Fußball etwa wurde in beinah allen KZs von Häftlingen selbst organisiert. Das wurde meist von der SS toleriert, oft sind auch SS-Leute als Zuschauer zu den Spielen gekommen.

aus der Erzählung „Menschen, die gingen“ von Tadeusz Borowski

„Zwischen zwei Eckbällen hatte man hinter meinem Rücken 3.000 Menschen vergast.“

Wie lässt sich erklären, dass es diesen Freiraum gab?

Die Italienische Fußball-Nationalmannschaft bei einem Besuch im KZ Auschwitz.

Im Jahr 2012 besuchte die italienische Fußballnationalmannschaft Auschwitz-Birkenau Foto: imago/Aflosport

Ab 1942 gab es einen Funktionswandel im System der Konzentrationslager, da nun Häftlinge für die Rüstungsproduktion als Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Eingeführt in diesem Zusammenhang wurde der arbeitsfreie Sonntag, um so die Arbeitskraft der Häftlinge wirklich rigoros ausschöpfen zu können. Es setzte sich also die Erkenntnis durch, dass es so etwas wie Regeneration bedarf, um die Menschen weiter effektiv auszubeuten.

Wer hat denn dort Fußball gespielt?

Sport, vor allem Fußball, galt als Vergünstigung für Häftlinge, die gut gearbeitet hatten oder die als Funktionshäftlinge in den Lagern eingesetzt wurden, beispielsweise um Arbeitskommandos zu bewachen oder innerhalb der Lagerverwaltung zu arbeiten. Diese Häftlinge erhielten oft bessere Lebensmittelrationen.

Hatten es gute Fußballer, etwa Ex-Profis, leichter?

Das glauben viele, aber das stimmt nicht. Einer der berühmtesten Fußballer, der in Auschwitz war, Julius Hirsch, hat vermutlich dort nicht Fußball gespielt. Oder wie es ein ehemaliger Häftlinge in einem Interview betonte: „Das Gros der Masse konnte nicht Fußball spielen; selbst wenn sie konnten, rein technisch, waren sie körperlich nicht dazu in der Lage, physisch.“

Wenn wir vom Sport im KZ reden, sprechen wir dann immer nur über Männersport?

Es gibt ganz wenige Quellen zum Frauensport. Als Praxis der Gewalt gab es das ganz sicher auch in Frauen-KZs – weniger in Ravensbrück, aber sicher im Frauenlager in Auschwitz. Zu Sport als Gunst kann ich hier nichts sagen. Das kann daran liegen, dass Frauensport damals in der gesamten Gesellschaft nicht so verbreitet und populär war. Es kann auch daran liegen, dass für Frauen in ihrer Erinnerung Sport nicht so wichtig ist wie für Männer.

Welche Rolle spielte das Boxen in Auschwitz?

Wenn man die Unterscheidung von Gewalt und Gunst nimmt, changiert es dazwischen. Es gab wohl auch den ein oder anderen Boxkampf, der von Häftlingen selbst organisiert wurde, hinter den Baracken, aber meist waren es Kämpfe, die von SS-Leuten veranstaltet wurden, die dafür Häftlinge gegeneinander antreten ließen.

Es waren sehr berühmte Kämpfer dabei.

Ja. Mit Victor „Young“ ­Perez, einem aus Tunesien stammenden Franzosen, war sogar ein Weltmeister in Auschwitz. 1931/32 hatte er den WM-Gürtel im Fliegengewicht besessen. Berühmt war auch Antoni Czortek, ein polnischer Teilnehmer an den Olympischen Spielen 1936. Er fiel durch seine gute Technik auf.

Was lässt sich über ihn sagen?

Er war Federgewichtler, und es heißt, dass er oft gegen Schwergewichtler antreten musste, die er mit seiner überlegenen Technik besiegte. Das war für Häftlinge, die den Kampf sahen eine David-gegen-Goliath-Situation.

Wurden beide Boxer in Auschwitz ermordet?

Victor „Young“ Perez wurde vermutlich im Januar 1945 auf dem Todesmarsch erschossen, kurz vor der Befreiung. Antoni Czortek wurde im Frühjahr 1945 in Mauthausen befreit. Er starb 2004 im Alter von 89 Jahren.

Wenn man in Auschwitz die Gaskammeranlagen besichtigt und dann hört, dass hier ja auch Fußball gespielt wurde – droht dann nicht eine Relativierung des Grauens?

Eine sehr schwierige Frage. Zur Beantwortung hilft vielleicht, sich zu vergegenwärtigen, warum das Thema „Sport im KZ“ auch in den Erinnerungen ehemaliger Häftlinge so spät thematisiert wurde: Es hatte ja, etwa beim Fußballspiel, etwas mit Begünstigung zu tun: mehr und besseres Essen, mehr Freizeit, weniger harte Arbeit. Und gerade diese Parallelwelten, diese enormen Unterschiede zwischen den Lebensbedingungen für die Häftlinge in den Konzentrationslagern, waren nur schwer zu vermitteln und nicht umsonst ein zentrales Thema in der Literatur, wenn Sie beispielsweise an Primo Levi denken.

Wer darüber gesprochen hätte, wäre ja eventuell Gefahr gelaufen, das Grauen als doch nicht so schlimm zu schildern. Es gibt die Erzählung „Menschen, die gingen“ des polnischen Schriftstellers Tadeusz Borowski, der auch in Auschwitz inhaftiert war. Darin schildert er die Parallelität von Gewalt und Gunst am Beispiel eines Fußballspiels in Auschwitz: Eine Gruppe ungarischer Jüdinnen ist mit dem Zug gekommen und wird zur Selektionsrampe geführt.

In Sichtweite findet ein Fußballspiel statt, der Ball fliegt nach einer Ecke ins Aus. „Als ich ihn aufhob, erstarrte ich: Die Rampe war leer. Ich ging mit dem Ball zurück und gab ihn zur Ecke. Zwischen zwei Eckbällen hatte man hinter meinem Rücken 3.000 Menschen vergast.“

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