DenFluch therapiert

In Celle und Hannover steht Goethes Version des Iphigenie-Dramas auf dem Programm. Während Iphigenie in Celle ihre Geschichten für Jugendliche als Angststörung erlebt, setzt Regisseurin Anne Lenk in Hannover auf Kritik an Männermacht und der Macht sozialer Milieus

Lehrstückhaft sind beide Inszenierungen, aber in Hannover gelingt das Stück dramaturgisch und handwerklich deutlich besser Foto: Katrin Ribbe

Von Jens Fischer

Betulich groovend im klassisch strengen Rhythmuskorsett fünfhebiger Jamben, penibel geschlossen die Form der Erzählung, antikisierend die Sprache deutscher Klassik, mit der im Assoziationsraum griechischer Mythologie der aufklärungswillige Geist der Versöhnung irisiert – Goethes „Iphigenie auf Tauris“ ist eine edel formatierte Selbstfeier der humanistisch gebildeten Vernunft des Menschen.

Verlockend ist es für Theater, den Stoff mit ihren Mitteln gegenwartsdurchlässig zu machen: heranzuholen an die Lebenswelt heutiger Jugendlicher. Schließlich geht es um aktuelle Themen wie Heimat, um Verwurzelungen des Ich-Bewusstseins und weibliche Emanzipation in patriarchalen Strukturen – auch um die Auseinandersetzung, ob übers Meer angespülte „Fremde“ aufzunehmen oder zurückzuweisen seien.

Jetzt sind die ethischen Diskurse mit dem Untertitel „Ein Traum vom Frieden“ am Schlosstheater Celle für Menschen ab 15 Jahren herausgekommen. Den von Goethe als Spielort behaupteten „Hain vor Dianens Tempel“ hat Ausstatterin Sabina Moncys ignoriert, setzt stattdessen auf den Lagerraum-Charme der Halle 19.

Angeödet chillt darin das Darsteller-Quartett in Reste-Rampe-Textilien aus dem Recyclinghof. Ein paar Absperrgitter deuten darauf hin, dass es um Aus- und Eingrenzungen geht. Verortet ist die Schlacht der Worte und Tränen im Abseits unserer Gesellschaft. Mittendrin als Heldin eine eher klassisch leidende Iphigenie, die mit der sonoren Bestimmtheit ihrer Stimme dieser Flüchtlingsfrau eine große Ernsthaftigkeit zu verleihen weiß, die als Dienerin der Diana jobbt – aber mit einer Loreley-Karnevals-Perücke lächerlich gemacht wird.

Ihr zur Seite steht ein Alter Ego, das sich der Jugend in Körperspiel und Artikulation und damit auch ihre Kämpfe um Wahrheit, Menschlichkeit sowie Liebe aller Art zur Identifikation anbietet. Eine anspielungskluge Idee, die Greta-Darstellerin des Thunberg’schen Feldzugs gegen den Klimawandel aus dem in Celle uraufgeführten Stück „Greta“, Zora Fröhlich, diese Jugendtheater-Version der Iphigenie spielen zu lassen.

Regisseur Christian Fries hat sich als Textvermittler dazu entschlossen, einen Großteil der Verse kommentierend in Prosa zu transferieren. „Und an dem Ufer steh’ich lange Tage,/das Land der Griechen mit der Seele suchend“, sagt Iphigenie – und der meist nur einstimmige Chor, wirft genervt ein: „Och, Heimat!“ Konfrontiert jemand die Protagonistin mit der Anmerkung, „dies ist der Blick, vor dem ich immer schaudre;/wie mit Eisenbanden bliebt die Seele/ins Innerste der Brust geschmiedet dir“, interpretiert der Chor: „Depression.“

Dieses Erklär-Pingpong liest sich ganz lustig. Live aber scheitert es an der Darbietung. Die Darsteller kommen kaum mal ins gemeinsame Spiel, agieren meist wie in einem frühen Probenstadium und absolvieren Regieanweisungen, die auch nicht immer überzeugen.

Manchmal wirkt die Aufführung plump. Etwa wenn König Thoas der Iphigenie den wohl trostlosesten Heiratsantrag der Celler Theatergeschichte macht, weil Freis seine Motivation simplifiziert in der Anmerkung, er wolle die Verbindung aus politischen Gründen. Gelungen ist hingegen der Versuch, den Tantaliden-Fluch als Therapiesitzung Iphigenies zu spielen, die all die Geschichten um Betrug, Ehebruch, Inzest, Kindesmissbrauch und mörderische Gemetzel als Angststörung erlebt.

Nebenan in Hannover steht der Stoff am Schauspielhaus ebenfalls auf dem Spielplan. Künstlerisch ein Klassenunterschied: Herztobend drauflos gespielt wird, nachdem die Vorgeschichte mit Euripides’„Iphigenie in Aulis“ als familiäres Psychodrama dargeboten wurde – mit bleiernem Pathos, also rein äußerlich.

Regisseurin Anne Lenk kritisiert so, dass die Figuren Marionetten ihres gesellschaftlichen Milieus sind. Wollte Papa Agamemnon doch seine Tochter Iphigenie opfern, damit die Götter ihm, dem Heeresführer, wohlgesonnen sind und Wind schicken zum Auslaufen der Flotte gegen Troja. In Aulis akzeptiert Iphigenie ihre Schlachtung schließlich wie ein hilflos vaterliebendes Kind, Göttin Diana rettet sie aber nach Tauris, wo sie für Goethes Drama erwachsen wird. Darstellerin Sabine Orléans brüllt noch mal das Leitmotiv des ersten Teils, „Vater!“, und monologisiert heimwehgeplagt wie in Celle, wie vertrauert fremd sie sich im Exil fühle, spricht „vom zweiten Tod“.

Im Gegensatz zu Celle wird in Hannover die Schlussszene, großes Drama großer Worte, üppig ausgespielt. Iphigenie schmeißt sich vor Thoas nieder, erklärt ihren Fluchtplan und bittet, die Todesstrafe für illegal Eingewanderte abzuschaffen. Dank der Macht ihrer Rede hat sie Erfolg. Ein Fest für den guten Willen. Die nützliche Idiotin der Männer-/Vätermacht bei Euripides ist zu einer leidenschaftlich klug Männermacht zivilisierenden Aktivistin geworden.

Das in Celle fehlende, final erlösende „Lebt wohl!“ kommt in Hannover von Iphigenie, nicht von Thoas. Sie verabschiedet sich, er nimmt es hin. Diese Emanzipationsgeschichte arbeitet Lenk heraus – abnabeln von der Familie, den Göttern und Männern. Das und die Zeit heilen zwar keine Wunden, löschen keine Traumata. Aber Iphigenie fühlt sich freier. Steht nun aber auch ganz allein auf der Bühne: der Preis ihrer Unabhängigkeit. Das ist lehrstückhaft wie in Celle. Nur eben handwerklich und dramaturgisch gekonnter, zudem näher an Goethes Text.

„Iphigenie – Ein Traum vom Frieden“: Fr, 17. 1., 20 Uhr, Celle, Halle 19

„Iphigenie“: So, 19. 1., 19 Uhr, Hannover, Schauspielhaus