Winde am Grenzadler

Oberhof, Ausrichter der Biathlon-Weltmeisterschaft 2023, muss sich einer Klimadebatte stellen,weil der Naturschnee im Thüringer Wald immer wieder zu den Schieß- und Laufevents ausbleibt

Anlegen auf Kunstschnee: Biathletinnen schießen in Oberhof im Kollektiv Foto: dpa

Aus Oberhof Andreas Morbach

Bodo Ramelow ist zwar immer noch Ministerpräsident von Thüringen, am Wochenende hätte der 63-Jährige aber auch problemlos als Oberhofer Tourismusmanager durchgehen können. Da erzählte der Politiker der Linken ganz offiziell davon, wie er am Samstagmorgen in der obersten Etage des örtlichen Panorama-Hotels beim Aufwachen die Sonne über den Wipfeln des Thüringer Waldes habe aufgehen sehen. „Da geht einem das Herz auf“, strahlte Ramelow, der für ähnliche Schwärmereien einen Tag später allerdings sehr viel Fantasie gebraucht hätte. Denn bei den abschließenden Massenstartrennen der Frauen und Männer fegten stürmische Winde durch die Arena am Grenzadler. Zudem umwaberte der berühmt-berüchtigte Oberhofer Nebel die Skijäger mal wieder.

Bei den ersten Wettkämpfen am Donnerstag und Freitag hatten warme Temperaturen und der viele Regen, der die mühsam präparierte Kunstschneedecke zu großen Teilen wegspülte, den Weltcup-Machern noch eine neue Klimadebatte beschert. Weil von Naturweiß auf Thüringens Höhen nichts zu sehen ist und auch die 37 Schneekanonen vor Ort nicht ausreichten, musste künstlicher Untergrund vom Biathlon-Spektakel auf Schalke herangekarrt werden. Über 400 Kilometer, auf über 30 Lkws. In Zeiten des Klimawandels und Fridays for Future ist das nicht mehr zu verantworten, kritisierten Umweltschützer. Doch weil das Thema warme Winter ein alter Hut ist, fordert Biathlon-Bundestrainer Mark Kirchner, zunächst müsse eine grundsätzliche Entscheidung getroffen werden: Will man weiterhin Wintersport auf Spitzenniveau betreiben oder nicht. Egal, ob auf regionaler, nationaler oder internationaler Ebene.

In Thüringens Biathlon-Mekka ist die Lage klar: In drei Jahren kommt die Skijäger-Elite dort zur WM zusammen – ein Prestige-Event, für das aktuell ordentlich geklotzt wird. „Wir wollen Oberhof in der Dimension um mehrere Stufen nach oben bringen, damit es unter den Weltentscheidungsdestinationen wieder ganz vorne mit dabei ist“, betont Bodo Ramelow. Rund um die Biathlon-WM – 2023 finden in Oberhof auch die Titelkämpfe der Rodler statt – rechnet der gebürtige Niedersachse mit Geldmitteln von 80 Millionen Euro aus Bundes-, Landes- und europäischen Etats. Gleichzeitig bekräftigten Politiker und Organisatoren am Wochenende ihre Bemühungen um Nachhaltigkeit bei der WM-Planung. „Unsere Zielstellung ist es, die CO2-Neutralität zu wahren. Wir wollen eine Wärme-Kälte-Kopplung ermöglichen, auch mit anderen Nutzern in Oberhof“, erklärte Ramelow.

Das Verkehrskonzept beim Weltcup zeigte bereits deutliche Fortschritte: Wo früher speziell vor den Rennen am Wochenende Massen von Autos und Bussen die Straßen hinauf in das Städtchen mit seinen 1.600 Einwohnern verstopften, gibt es nun kaum noch Staus, weil das zunehmend ausgeklügelte System mit Shuttlebussen dafür sorgt, dass die Zuschauer bereits 15 bis 20 Kilometer vor Oberhof an verschiedenen Standorten aufgenommen werden.

Ramelows Vision: Oberhof zu einer „Weltentscheidungs- destination“ machen

Auf der anderen Seite läuft bei den Protagonisten stets auch das schlechte Gewissen mit. Zu Saisonbeginn bezeichnete Olympiasieger Arnd Peiffer die gesamte Branche der Vielflieger und Vielautofahrer tendenziell als Umweltsünder. Doch weil genug auch im Biathlon nicht genug ist, soll dem traditionellen Weltcupauftakt im schwedischen Östersund im nächsten Winter noch eine Station vorangestellt werden. In Kontiolahti, Finnland.

„Das wäre dann mal wieder eine Extrareise“, kommentiert der Thüringer Erik Lesser im Gespräch mit der taz lakonisch – und findet: „Da muss man überlegen: Was geht vor: die Action, oder einfach mal zu sagen: ‚Leute, wir gehen nicht jeden Hype mit‘?“ Das ist eine gute Frage – die Antwort scheint beim aktuellen Trend zu reiseintensiven Großveranstaltungen jedoch längst festzustehen. Dass Erik Lesser in den letzten Tagen aber nicht einfach aus seinem Wohnzimmer zu den Rennen marschierte, sondern zur Loipen-Arbeit bis ins slowakische Osrblie reiste, war dagegen selbstverschuldet: Weil er bei den Dezember-Weltcups zu schlecht war, musste sich der Weltmeister von 2015 erst einmal im IBU-Cup, der zweiten Biathlon-Liga, beweisen.