Experte über Lernen: „Das Hirn ist ein Sozialorgan“

Wie lernt das Gehirn? Erziehungswissenschaftler André Frank Zimpel über Montessori-Pädagogik, Aufmerksamkeitsspannen und Bulimielernen.

Ein Gehirn illustriert

Lernen findet überall im Hirn statt Illustration: Adobe Stock

taz am wochenende: Herr Zimpel, welche Hirnregionen brauchen wir, um gut zu lernen?

André Frank Zimpel: Alle, weil Lernen in jeder Zelle verortet ist. Überall, wo Netzwerke sind, passiert Lernen.

Aber einige Regionen sind doch besonders wichtig?

Ja richtig, der Hippocampus ist zum Beispiel besonders beteiligt, wenn es darum geht, Dinge aus dem Gedächtnis abzurufen und zu verankern. Der Hippocampus ist wahrscheinlich der älteste Teil unseres Gehirns. Zum Beispiel hat man bei der Drosophila-Fliege, dem Haustier der Genetiker, Gene gefunden, die für die Bildung des Hippocampus verantwortlich sind. Wenn zwei Dinge zusammenkommen, ein elektrisches Signal und ein Neurotransmitter, meistens ist das Glutamat, dann werden in dieser Hirnregion Verbindungen gestärkt oder neu gebildet.

Lernen ist nicht mehr möglich, wenn der Hippocampus beschädigt ist?

Es erschwert das explizite Lernen oder macht es unmöglich.

Was bedeutet explizites Lernen?

Wenn wir etwas ganz bewusst lernen. Bei einem meiner Patienten wurden durch einen Unfall beide Hippocampi so stark verletzt, dass er in einigen Minuten alles wieder vergisst. Wir haben mit diesem Patienten geübt, einen Elektrorollstuhl zu fahren. Er hat sich jedes Mal überschwänglich bedankt, nach unserem Namen gefragt. Am nächsten Tag war alles schon wieder weg. Aber er hat trotzdem noch gelernt, denn es ging mit der Bedienung immer schneller. Wir mussten es immer wieder erklären, aber er hat es in immer kürzerer Zeit verstanden. Ein implizites Lernen, also ein unbewusstes Lernen, fand also noch statt.

Der Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg wurde 1960 geboren. Er befasst sich mit der geistigen Entwicklung von Kindern.

Sie sprachen gerade von dem Botenstoff Glu­tamat. Welche Neurotransmitter sind noch wichtig?

Zum einen das Acetylcholin, es fokussiert auf bestimmte Inhalte. Sie kennen wahrscheinlich das Experiment mit zwei Mannschaften in weißen und schwarzen Trikots, die sich Bälle zuwerfen. Die Zuschauer werden aufgefordert, zu zählen, wie oft die Weißen den Ball in der Hand haben. Dann geht eine Person in einem schwarzen Gorillakostüm durch die Szene. Die meisten Menschen sehen die Person aber nicht. Das nennt man Aufmerksamkeitsblindheit.

Aufmerksamkeit ist ganz wichtig für konzentriertes Lernen. Dopamin ist für begeistertes Lernen verantwortlich, auch wenn es Schwierigkeiten gibt, das machen schon kleine Kinder und Babys. Neurotransmitter sind immer mit Emotionen verbunden. Wenn wir gut lernen wollen, sollten wir es immer mit Emotionen verbinden. Das gilt auch für Stress. Unter Stress lernen wir paradoxerweise ziemlich gut.

Das ist aber doch kein nachhaltiges Lernen?

Sicher nicht, man erinnert sich nämlich nicht nur ans Gelernte, sondern auch an die Emotionen. Darum heißt es Bulimielernen, weil man versucht, schnell zu vergessen. Nachhaltiges Lernen ist immer mit positiven Emotionen verbunden. Wir erinnern uns dann gern und jedes Erinnern festigt wieder das Gelernte.

Vielen fällt es aber schwer, positive Emotionen beim Lernen zu schaffen.

Daher ist Spielen so entscheidend. Im freiwilligen Spiel lernen wir am besten. Das hat ja schon Maria Montessori entdeckt. Sie nannte es die Polarisation der Aufmerksamkeit, die Fähigkeit, sich intensiv zu konzentrieren, wenn Kinder ihre Lerngegenstände frei wählen können. Das passiert natürlich meist unter der Anleitung von Erwachsenen. Kinder sind weder über- noch unterfordert, weil sie sich das wählen, was sie herausfordert und voranbringt.

Unser Autor stand schon als Kind auf Skiern, heute verspürt er wegen des Klimawandels vor allem eines: Skischam. Für die taz am wochenende vom 15. Februar nimmt er Abschied von der Piste und fährt ein letztes Mal. Außerdem: Wer gewinnt die Bürgerschaftswahlen in Hamburg? Auf Wahlkampftour mit den Kandidaten der Grünen und der SPD. Und: Waffel kann auch Döner sein, Obstdöner. Über das heilendste Gericht der Welt. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Bei Erwachsenen ist die Fähigkeit oft verschüttet. Die Montessori-Pädagogik ist weltweit herausragend. Die Gründer von Google – und ich glaube, auch der Gründer von Amazon – sind ehemalige Montessori-Schüler. Im Spiel erlernen Kinder außerdem die Selbsteinschätzung. Der wichtigste Punkt beim Lernen ist die Selbsteinschätzung, das hat die Hattie-Studie, die größte Bildungsstudie weltweit, entdeckt.

Gibt es eigentlich verschiedene Lerntypen? Wenn zum Beispiel ein visueller Typ vor allem visuelle Sinneskanäle nutzt?

Die Sinne tragen nur wenig zum Lernen bei. Wir haben immer noch die Vorstellung, da ist die Welt draußen und die ziehen wir uns über die Sinne in das Gehirn hinein. So passiert Lernen aber nicht. Es ist genau umgekehrt. Es passiert über Fantasie. Wir machen uns in der Fantasie ein Bild von der Welt und überprüfen es. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie wenig wir sehen würden, wenn wir nur die Signale von den Augen hätten. Die meisten Informationen beziehen wir aus dem Gedächtnis. Das ist unser Fantasiebild von der Welt, und die Sinne überprüfen hin und wieder, ob dieses Bild noch gültig ist. Wir sind immer weniger auf die Sinne angewiesen, wenn wir uns kognitiv entwickeln. Lernen ist eine Befreiung von den Sinnen.

Wir lernen also auf unterschiedliche Weise?

Ja. Zum einen gibt es Menschen, die ihre Fantasie vor allem über die Sprache aufbauen. Als Kinder haben sie viele Selbstgespräche geführt. Sie machen sich ein Bild von der Welt, indem sie innere Selbstgespräche führen.

Die lernen am besten, wenn sie sich Notizen machen und sich etwas aufschreiben?

Nicht unbedingt. Vor allem sollten sie sprechen. Das sind Menschen, die zu jemanden reden, aber einen gar nicht meinen, weil sie ihre Gedanken sortieren. Um hinterher klar zu sein. Sie nutzen die Lautsprache. Die Schriftsprache ist schon wieder kompliziert, weil Buchstaben auch Bilder sind. Ein weiterer Typ ist mehr visueller Natur und macht sich vor allem filmartige Vorstellungen. Das sind Menschen, die konkrete Vorstellungen haben, wie etwas aussehen und wie sich etwas anfühlen muss.

Gibt es noch eine dritte Gruppe?

Ja, das sind Menschen, die vor allem Muster bilden. Sie machen sich von einem Prinzip, einer Formel oder einer Melodie abstrakte Vorstellungen.

Also mathematische Typen?

Ja, mathematisch-musikalische. Sie können zum Beispiel gut Melodien erfassen oder mathematische Strukturen. Sie müssen sich einen Überblick über die Struktur des Lerninhalts verschaffen. Bildliche Denker und Denkerinnen sollten sich ein konkretes Bild machen. Wenn sie eine Sprache lernen, bräuchten sie ein Wörterbuch mit Bildern. Für Sprachdenkende ist das klassische Wörterbuch besser. Für sie wäre auch ein Wörterbuch mit Umschreibungen gut. Musterdenkende wiederum würden eher mit Grammatik arbeiten und die passenden Wörter einsetzen. Aber all diese Lerntypen haben aber nichts mit den Sinnen zu tun. Blinde Menschen können bilddenkend und Gehörlose Personen können sprachdenkend sein.

Einer Ihrer Schwerpunkte sind Lernschwierigkeiten. Wie lernen zum Beispiel Menschen mit Trisomie 21?

Weil sie einen kleineren Aufmerksamkeitsumfang haben, bekommen sie immer nur die Hälfte mit. Wenn wir die Buchstaben V und W vergleichen, sehen wir beim V zwei Striche und beim W vier Striche. Das sehen wir auf einen Blick, weil wir in einer Viertelsekunde vier Dinge auffassen. Hätte ich jetzt 47 Chromosomen in jeder Zelle, würde ich nur zwei Striche simultan erkennen können und müsste bei dem V und dem W zwei Mal hinschauen. Nach unserem Standard erscheinen uns Menschen mit Trisomie 21 als geistig behindert. Das ist aber kein unabwendbares Schicksal, denn es gibt Menschen mit Trisomie 21, die einen Uniabschluss haben. Der Ökonom Francesco Aglio hat sogar promoviert.

Müssen sie also doppelt so lange lernen?

Doppelt macht nicht besser. Das ist ähnlich wie bei Gehörlosen, die früher Lippenlesen lernten. Dabei bekommt man auch nur etwa die Hälfte mit. Sie galten daher als schwachsinnig. Seitdem sie die Gebärdensprache nutzen, machen gehörlose Studierende genauso gute Abschlüsse wie Hörende. Ich muss nur dafür sorgen, dass immer Dolmetscher da sind. Irgendwann werden wir auch wissen, was Menschen mit Trisomie 21 hilft. Einige Dinge wissen wir schon. So lernen zwei Jahre alte Kinder, bevor sie sprechen können, nach der Ganzwortmethode lesen.

Wie funktioniert die Ganzwortmethode?

Man fängt an, mit den Zweijährigen Bilder zu sortieren, gleich und ungleich, und sortiert dann geschriebene Wörter nach gleich und ungleich. Dabei nimmt man Wörter, für die sich Kinder interessieren, die sie begeistern. Dann sprechen sie die Wörter und schauen sich das geschriebene Wort an und bekommen so ein Gefühl für das ganze Wort. Das flüchtig gesprochene Wort können sie schwer greifen.

Wenn ich ein Kind mit Trisomie 21 auffordere, das Wort Universität zu sagen, sagt das Kind „Tität“ und ist total glücklich. Ein Mädchen stand einmal in der Uni vor einer Wand mit Bildern von Tieren und es rief immer Affe und zeigte auf die Wand. Da waren aber nur Krokodile, Dromedare, Kühe, aber kein Affe. Bis jemand darauf kam, dass sie Giraffe meinte. Wir haben vor Kurzem eine Mathe-App für Menschen mit Trisomie 21 entwickelt, mit der sie Zahlvorstellungen entwickeln können. So verstehen sie abstrakte Beziehungen zwischen Zahlen.

Was können wir von Menschen mit Trisomie 21 lernen?

Dass auch wir eine begrenzte Aufmerksamkeitsspanne besitzen, also vier Dinge in einer Viertelsekunde aufnehmen. Der größte Aufmerksamkeitsumfang, den ich je gemessen habe, lag übrigens bei 37 in einer Viertelsekunde. Ähnlich wie bei Stephen Wiltshire, der einmal über Rom fliegt und ein Panoramabild der Stadt aus dem Gedächtnis malt. Wir lernen von Menschen im Neurodiversitätsspektrum, dass die Aufmerksamkeitsspanne und wie sie berücksichtigt wird, darüber entscheidet, wie sich meine Intelligenz entwickelt.

Welcher Faktor hat den meisten Einfluss auf gutes Lernen?

Das soziale Umfeld. Unser Gehirn ist vor allem ein Sozialorgan. Was uns zum Lernen motiviert und uns möglichst wenig Abkürzungen gehen lässt, sind andere Menschen. Am besten für das Lernen sind inspirierende Menschen. Martin Buber hat das einmal schön gesagt: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“

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