Eine junge Taiwanesin jubelt auf einer Wahlkampfveranstaltung der amtierenden Präsidentin mit erhobenen Armen. Hinter ihr im Dunkeln steht eine Menschenmenge mit vielen Fähnchen

Die enthusiastische Ausnahme? Eine junge Unterstützerin der amtierenden Präsidentin Tsai Ing-wen Foto: ap/ Ng Han Guan

Präsidentschaftswahl in Taiwan:Generation Freiheit

Kurz vor der Wahl in Taiwan waren die Proteste in Hongkong das bestimmende Wahlkampfthema – zumindest unter jungen Demokratinnen.

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Aus taipeh, 11.1.2020, 09:31  Uhr

Es ist heiß und windig an diesem Sonntag in Taipeh. Auf einem Platz zwischen Hochhäusern im südwestlichen Stadtteil Banqiao drängen sich Hunderte Menschen. Die meisten hier sind im Rentenalter. Eine Frau mit silberner Dauerwelle fächert sich mit einem pinken Fähnchen Luft zu. Wahlkampfhelfer:innen verteilen bedruckte Schirmmützen.

Am 11. Januar sind Präsidentschaftswahlen in Taiwan. Die Prognosen sehen gut aus für die amtierende Präsidentin Tsai Ing-wen und ihre demokratische Fortschrittspartei. Fast 20 Prozentpunkte Vorsprung hat sie vor ihrem nationalistischen Kontrahenten Han Kuo-yu, der wegen seiner populistischen Aussagen schon als „der Donald Trump Taiwans“ bezeichnet wurde.

Das Publikum hat auf kleinen Plastikhockern Platz genommen. Von einer großen Bühne aus schmettern Wahlkämpfer:innen in grünen Poloshirts Parolen ins Mikrofon, die Menge ruft enthusiastisch zurück: „Fortschrittspartei!“ und „Weiter so!“ An einer Hochhauswand hängt ein riesiges Foto der Präsidentin, sie hat die rechte Hand zur Faust geballt. Ein Raunen geht durch die Menge, es nähert sich ein Wagen mit verdunkelten Fensterscheiben. Ist sie das? Nein, noch nicht.

Wer auch fehlt, sind junge Leute. Warum eigentlich? Kein politisches Interesse? Verstaubte Parteistrukturen, die keine jungen Wäh­le­r:in­nen ansprechen? Oder die Tatsache, dass viele Tai­wa­ne­r:in­nen so viel arbeiten und ihre wenige Freizeit nicht auf Wahlkampfveranstaltungen verbringen wollen? Möglicherweise von allem ein bisschen.

Ein Zaun mit Stoffbändern behangen

„Weiter so, Hongkong“ oder „Kämpft für Freiheit“ steht etwa auf den Stoffbändern im Zentrum Taipehs Foto: Lin Hierse

Ein paar Tage zuvor steht Christine Hsu vor einem mit Zetteln und Stoffbändern gespickten Maschendrahtzaun im Zentrum Taipehs, Palmen verdecken den Blick auf ein Backsteingebäude, eine Kirche aus Kolonialzeiten. „Weiter so, Hongkong“, „Frieden und Liebe, bitte!“ und „Kämpft für Freiheit“ steht auf vielen Post-its, meist in chinesischen Schriftzeichen, manchmal auf Englisch. „Natürlich sind wir solidarisch mit den Protestierenden in Hongkong“, sagt Hsu. Die 27-Jährige trägt Minirock und schwarze Stiefel mit hohem Schaft. Sie entspricht nicht dem Klischee einer Hausbesetzerin, aber Hsu war dabei, als 2014 das taiwanische Parlament besetzt wurde. Wenige Meter vom Zaun entfernt stürmten rund 400 Studierende den Sitzungssaal in Taipeh und verbarrikadierten sich dort für 23 Tage.

Die sogenannte Sonnenblumenbewegung erlangte damals weltweit Aufmerksamkeit und wurde von einem Großteil der taiwanischen Bevölkerung unterstützt. Hintergrund war ein Abkommen mit dem chinesischen Festland, das die damalige Regierung der Nationalisten durchsetzen wollte, um Investitionen im Dienstleistungssektor für beide Seiten zu erleichtern. Viele Taiwaner:innen befürchteten, das Abkommen würde mehr Einfluss aus Peking bedeuten – und viele Studierende wurden zu Aktivist:innen. Ihr Protest hatte Erfolg: Ein Gesetz für transparente Abkommen mit China wurde verabschiedet, das geplante Dienstleistungsabkommen wurde auf Eis gelegt.

Angst vor zweiten Hongkong
Christine Hsu, Nachwuchspolitikerin

„Viele von uns mögen die Präsidentin nicht, aber sie trauen den Nationalisten eben noch weniger zu“

Die Welt kümmert sich wenig um die Republik China, wie Taiwan offiziell heißt. Es sei denn, es geht um den seit Jahren brodelnden Konflikt mit dem Festland. Taiwans großes Problem ist die wirtschaftliche Abhängigkeit von China: Mittlerweile gehen knapp 40 Prozent der taiwanischen Exporte in die Volksrepublik. Tsai Ing-wen versucht das zu ändern, indem sie sich nach Südostasien orientiert. Doch für viele Firmen bleibt China attraktiver, schon aufgrund der gleichen Sprache und ähnlicher kultureller Kontexte. Dieses Jahr prägen die Geschehnisse in Hongkong den Wahlkampf in Taiwan. Hongkong ist von Taipeh kaum anderthalb Flugstunden entfernt. Und auch politisch fühlen sich viele junge Taiwaner:innen der widerständigen Metropole nah. So nah, dass sie ein ähnliches Schicksal befürchten.

Portraitbild von Christine Hsu

Christine Hsu war dabei, als 2014 das taiwanische Parlament besetzt wurde Foto: Lin Hierse

„Ich würde nicht sagen, dass die Mehrheit der taiwanischen Bevölkerung mit Leidenschaft die Kämpfe in Hongkong verfolgt“, sagt Christine Hsu. Aber gerade diejenigen, die damals Teil der Sonnenblumenbewegung waren, könnten die Motivation der Demonstrierenden in Hongkong nachfühlen. „Wir haben denselben Feind“, sagt Hsu. Bei der anstehenden Wahl würden deswegen viele junge Wähler:innen Präsidentin Tsai und deren Fortschrittspartei unterstützen, allerdings eher aus der Not heraus. Tsai erkläre zwar ihre Solidarität mit Hongkong, aber wegen der wirtschaftlichen Beziehungen zum Festland tue sie nicht genug. Zum Beispiel gebe es noch immer kein Asylrecht für die Menschen aus Hongkong. „Viele von uns mögen Tsai gerade nicht“, sagt Hsu, „aber sie trauen den Nationalisten eben noch weniger zu.“

Die zwei großen Volksparteien in Taiwan bieten der jungen Generation keine politische Heimat – das erinnert etwas an Deutschland. Sowieso sieht der Alltag der Jugend hier nicht sehr anders aus: ausgehen, die Welt sehen, Spaß haben. Nur der Leistungsdruck ist höher, Freizeit ist rar. Christine Hsu will in einer kleinen Partei Karriere machen, sie glaubt an die Sozialdemokratie. Die SDP in Taiwan ist erst vier Jahre alt und noch nicht im Parlament vertreten. „Vielleicht dauert es noch 20 Jahre“, sagt sie eher zuversichtlich als müde. „Kleine Parteien tun einfach mehr für die normalen Leute. Die Fortschrittspartei verhandelt mit der wirtschaftlichen Elite, wir machen uns Gedanken über Arbeitsrecht und soziale Fragen“, sagt Hsu. „Ich will jungen Menschen zeigen, dass es einen Unterschied macht, ob die Politik dich lenkt oder du die Politik.“

Eine Karte zeigt Taiwan und China

Infografik: infotext-berlin.de

In Taiwan leben derzeit knapp 23 Millionen Menschen, das Durchschnittsalter liegt bei rund 43 Jahren. Wie viele andere Länder wird der Inselstaat älter, die Alterspyramide ist oben bauchig und unten schmal. Im Jahr 2019 machte die Gruppe der 20- bis 30-Jährigen knapp 8 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, Tendenz fallend. Auf ihrer Wahlkampftour schütteln die Kandidat:innen vor allem ältere Hände. Viele junge Taiwaner:innen fühlen sich nicht vertreten. Und sie erzählen von heftigen Auseinandersetzungen in ihren Familien, von einem Aufeinanderprallen verschiedener Haltungen.

„Was die Wahl angeht, streiten wir uns zu Hause eigentlich jeden Tag“, sagt Aeris, nachdem sie die Kopfhörer abgenommen hat. Es ist wenig los an diesem Nachmittag im Café Elf, fußläufig vom Parlament entfernt. Ab und zu prustet der Milchschäumer, ein Ventilator surrt an der Decke. An den Tischen verschwinden junge Köpfe hinter Laptops. Aeris will nur mit ihrem Vornamen genannt werden – falls sie etwas sagt, das ihr oder der Familie schaden könnte.

Die Mittzwanzigerin stammt aus Keelung, einer Hafenstadt nordöstlich von Taipeh, heute arbeitet sie für eine deutsche Firma in der Hauptstadt. Wie Christine Hsu haben Aeris und viele ihrer Freund:innen vor fünf Jahren die Sonnenblumenbewegung in Taipeh unterstützt, jetzt organisieren sie Solidaritätskampagnen für Hongkong. Auch Aeris will Präsidentin Tsai wählen, obwohl sie unzufrieden mit ihr ist. „Wir sollen mehr und länger arbeiten, aber werden nicht besser bezahlt, das ist unfair.“ Sie zögert. „Aber wenn wir unsere Demokratie und Freiheit schützen wollen, müssen wir das zuerst tun. Danach können wir uns um die anderen Probleme kümmern.“

Was in Hongkong passiert, macht Aeris Angst. So viel Angst, dass die Chinafrage für sie oberste Priorität hat. Sie fürchtet, Taiwan könne das nächste Hongkong werden, die meisten ihrer Freund:innen teilten diese Ansicht. Also begehrten sie auf – in Gesprächen, auf Demonstrationen, durch ihr Wahlverhalten. „Wenn wir unser Wahlrecht verlieren, haben wir keine Chance mehr. Tsai ist nicht die beste, aber die einzige Wahl für mich und meine Freunde.“ Studien zeigen, dass sich heute nur noch etwa ein Drittel der Bevölkerung als taiwanisch und chinesisch zugleich identifiziert. Von den unter 30-Jährigen sehen sich sogar rund 80 Prozent als ausschließlich taiwanisch an. China hat für sie nichts mehr mit ihrer Identität zu tun, Peking ist in erster Linie Bedrohung.

228 – das Trauma Taiwans
Ein rosafarbener Wecker, auf dem die amtierende PräsidentinTsai Ing-wen abgebildet ist

Ist ihre Zeit schon abgelaufen? Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen Foto: Reuters

Den Älteren macht das Verhalten ihrer Kinder Sorge. Schließlich gibt es – noch –Frieden in Taiwan. „Für meine Eltern ist es okay, wenn ich zu Hause meine Meinung sage. Aber sie wollen, dass ich in der Öffentlichkeit den Mund halte. Sie haben Angst, dass ich deshalb Probleme bekommen könnte“, sagt Aeris. Doch der Streit in ihrer Familie geht auf mehr zurück als auf aktuelle Debatten zum Umgang mit Peking. „Ich habe auch Verständnis dafür, dass meine Eltern und Großeltern anders denken“, sagt Aeris. „Meine Großeltern haben extrem unter der Herrschaft der Nationalisten gelitten. Sie haben das Morden und das Massaker am Hafen von Keelung gesehen, als sie etwa 20 Jahre alt waren.“

Das Massaker von Keelung ist Taiwans großes Trauma. „228“ heißt es verkürzt, weil am 28. Februar 1947 der Aufstand der Bevölkerung gegen die nationalchinesische Verwaltung begann. Die Menschen machten ihrem Unmut wegen Korruption und Misswirtschaft Luft. Die Nationalchinesen schlugen brutal zurück und ermordeten mindestens 20.000 Menschen. „Ich wusste lange nicht, was meine Großeltern erlebt haben“, erzählt Aeris, „erst viel später hat mein Opa von Keelung erzählt. Er sagt, er habe einen Fluss voller Leichen gesehen.“ Lange Zeit durften Aeris’ Großeltern nicht über das Massaker sprechen.

Ihre Eltern hingegen hätten von den Nationalisten profitiert. „Sie haben ihnen Bildung ermöglicht, stabile Karrieren – aber man hat ihnen eben auch nicht beigebracht, sich selbst und den Status quo infrage zu stellen.“ Deswegen, so glaubt Aeris, bereitet ihren Eltern der Aktivismus ihrer Tochter Sorgen. „Sie wollen ihre Familie beschützen. Wenn du ihnen Demokratie und Wahlrecht nimmst, werden sie sagen: Wir wollen nur, dass unsere Familie sicher ist und wir in Frieden leben können. Ich brauche Freiheit nicht auf Kosten des Friedens.“ Aeris nickt ihrer eigenen Erkenntnis hinterher.

Ein paar Kilometer entfernt sitzt Li Hsin in einem Raum mit kleinen Fenstern. Auf der Fensterbank liegt der Controller einer Spielkonsole, gegenüber dem Sofa stehen Umzugskartons herum, in einem Käfig mümmelt ein weißer Hase vor sich hin. „Der heißt Democrabbit“, sagt Li Hsin und lacht. Die Studentin ist 21 Jahre alt, trägt eine rechteckige Brille und ein Karoshirt, das lange Haar fällt ihr über die Schultern. Sie ist Gründungsmitglied der Taiwan Youth Association for Democracy, einer Organisation, die die Jugend politisch und gesellschaftlich sichtbarer machen will. In einem zentralen Stadtteil von Taipeh haben sie sich in eine Bürogemeinschaft eingemietet. Etwas versteckt im Hinterhof liegen die Räume, eine moderne Gemeinschaftsküche mit Kochinsel gehört dazu und zwei Büros, das Ambiente irgendwo zwischen Start-up, LAN-Party und Fachschaftsinitiative. Li Hsin trägt ein mit Stickern beklebtes MacBook mit sich herum, darauf zu sehen sind unter anderem eine Karikatur der Präsidentin mit einer langen Lügennase, ein frierender Pinguin und der Satz „Only yes means yes“.

Li Hsin ist nervös, immer wieder aktualisiert sie die Seite im Browserfenster, um die Zahlen zu checken. Li hatte ihr Politikstudium die letzten Monate unterbrochen, „weil ich wissen wollte, wofür ich das überhaupt mache“. Sie arbeitete in einem Marketingunternehmen und lernte dort viel darüber, wie man Menschen erreicht. Jetzt organisiert Li schon zum zweiten Mal das Projekt „A ticket back home“, ein Crowdfunding für junge Leute, die sich kein Busticket leisten können, um zum Wählen in ihre Heimatstädte zu fahren. „In Taiwan müssen alle an ihren Heimatort zurückkehren, um zu wählen“, erklärt Li. „Auch deshalb nehmen meist nur wenig junge Leute an den Wahlen teil.“

Die Wahlbeteiligung in der Gruppe der 20- bis 35-Jährigen liegt bei rund 60 Prozent. Von den Menschen um die 70 wählen knapp 90 Prozent, „aber für die ist der Gang zur Wahlurne auch wie ein Gang zum Wochenmarkt“, sagt Li. Die Jüngeren ziehen auf der Suche nach den besten Chancen oft aus ihren Heimatorten fort. Um wählen zu können, müssen sie nicht nur das Geld für die Reise, sondern auch die Zeit aufbringen. Die Leistungsgesellschaft erlaubt das kaum.

Li wollte das Problem lösen. Vor zwei Jahren, als Taiwaner:innen über ein Referendum zur gleichgeschlechtlichen Ehe abstimmen konnten, sammelte Lis Initiative genug Geld, um 2.500 Personen ein Busticket zu bezahlen – für viele die erste Abstimmung, an der sie sich beteiligten. Dieses Jahr hat die Kampagne den Betrag schon 24 Stunden nach dem Launch fast erreicht. Li ist aufgeregt: „Ich habe mir Sorgen gemacht. Oft bin ich morgens aufgewacht und dachte: Wie können wir die Leute erreichen? Aber die Proteste in Hongkong haben uns geholfen. Die Leute verstehen, dass es wichtig ist, dass sie wählen gehen.“

Und die Studentin denkt längst weiter. Niedrige Löhne, mit denen sich die Mieten kaum bezahlen lassen; der steigende Meeresspiegel; eine Gesellschaft, die keine Zeit für Freizeit und Privatleben lässt – das alles beschäftige ihre Generation. „Wir müssen das System verändern“, betont Li. „Wir wollen zeigen, dass es uns um mehr geht als Bildung. Jugend spielt in allen Bereichen eine Rolle, das muss die Regierung verstehen.“ Wen sie am Samstag wählen wird, will sie nicht verraten, schließlich muss ihre Initiative neutral bleiben. „Natürlich unterstütze ich die Demokratie“, sagt Li diplomatisch, und mit Blick auf den Sticker von Tsai mit der langen Nase ergänzt sie mit einem Schmunzeln: „Präsidentin zu sein ist schon einer der härtesten Jobs dieser Zeit.“

Dieser Text entstand im Rahmen einer Recherchereise des Vereins journalists.network. Finanziell unterstützt wurde die Reise von der taiwanischen Vertretung in der Bundesrepublik Deutschland, EnBW Asia Pacific Ltd., Heidenhain Co. Ltd. und der Adolf Würth GmbH & Co. KG Taiwan Branch.

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