Dokumentationszentrum zur NS-Justiz: Wo das Unrecht weiter ging

Das „Strafgefängnis Wolfenbüttel“ war eine der Hinrichtungsstätten der Nationalsozialisten im Norden. Nun gibt es dort ein Dokumentationszentrum.

Das Hinrichtungsbuch des Henkers ist in der Gedenkstätte der JVA Wolfenbüttel zu sehen.

Akribische Buchführung: Das Hinrichtungsbuch des Henkers in der Gedenkstätte der JVA Wolfenbüttel Foto: dpa

WOLFENBÜTTEL taz | Der Angeklagte Bernhard Christ sei „ein nicht reinblütiger Zigeuner“, heißt es in dem Urteil des Landgerichts Osnabrück, das den Hochseilartisten wegen verschiedener kleiner Diebstähle als „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ zu elf Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. „Herkunft, Erziehungsverhältnisse und Verhalten in der Jugend lassen einen anlage- oder (und) einflußbedingten Hang zum Asozialen, ja Kriminellen erkennen“, heißt es in der Begründung der Richter. Geschrieben haben sie das im Jahr 1968.

Härte, Argumentation und Wortwahl des Urteils erinnern an die NS-Justiz – das Gesetz gegen sogenannte „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ wurde 1933 von den Nationalsozialisten eingeführt. „Diese strafgesetzliche Regelung wurde fast unverändert ins bundesdeutsche Strafgesetzbuch übernommen“, sagt die Historikerin Ina Stenger von der Gedenkstätte der JVA Wolfenbüttel.

Dort zeigt seit Kurzem ein neues Dokumentationszen­trum das System der Justiz und des Strafvollzugs im Nationalsozialismus am Beispiel des Strafgefängnisses Wolfenbüttel. Zwischen 1937 und 1945 wurden dort mehr als 500 Häftlinge hingerichtet, weitere 500 Menschen starben an den Folgen ihrer Behandlung.

Ein Kapitel in der Ausstellung ist den NS-Sondergerichten gewidmet, die 1933 eingerichtet wurden und vor allem regimekritische Äußerungen aburteilten. Die meisten in Wolfenbüttel Hingerichteten starben nach Todesurteilen der Sondergerichte Hannover und Braunschweig.

Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel: Am Herzogtore 13, Infos unter https://wolfenbuettel.stiftung-ng.de

Die Ausstellung beleuchtet aber auch die Kontinuitäten nach dem Krieg. „1952 hatten in der Bundesrepublik mehr als 60 Prozent der im Staatsdienst tätigen Juristen eine NS-Vergangenheit“, sagt Stenger, eine der KuratorInnen der Ausstellung.

So wird auch der Fall des Staatsanwaltes Karl-Heinz Ottersbach präsentiert, der ab 1941 am Sondergericht Kattowitz für Bagatelldelikte erfolgreich die Todesstrafe beantragte. Nach seiner „Entnazifizierung“ arbeitete er ab 1952 als Staatsanwalt für politische Strafsachen am Landgericht Lüneburg und sorgte dafür, dass Kommunisten wegen Staatsgefährdung angeklagt wurden – 1951 wurde dieser Straftatbestand wieder eingeführt, der sich vor allem gegen die politische Betätigung von Kommunisten richtete.

Zwischen 1952 und 1968 wurden alleine in Niedersachsen 230 Personen wegen Staatsgefährdung und 529 wegen Landesverrats verurteilt. Eine Anzeige gegen Ottersbach wegen eines NS-Todesurteils hatte 1961 keinen Erfolg: Der zuständige Staatsanwalt stellte das Verfahren ein. Ottersbach wurde versetzt und 1965 mit 53 Jahren frühpensioniert.

Auch der juristische Umgang mit homosexuellen Männern änderte sich nach 1945 zunächst nicht. „Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt, wird mit Gefängnis bestraft“, hieß es in dem bereits in der NS-Zeit gültigen Paragraphen 175. In der Ausstellung wird das Schicksal von einigen der insgesamt 1.872 Männer geschildert, die nach diesem Paragraphen wegen homosexueller Handlungen zwischen 1952 und 1969 in Niedersachsen verurteilt wurden. Bundesweit wird die Zahl der Verurteilungen auf rund 50.000 geschätzt.

Der 17-Jährige Alfred Beichel etwa wurde 1949 vom Amtsgericht Hannover zu drei Monaten Jugendstrafe verurteilt, weil er Ende der 1940er-Jahre Männern sexuelle Handlungen für Geld angeboten hatte. Im Aufnahmebogen des Strafgefängnisses Wolfenbüttel heißt es wohlwollend, dass es keine Hinweise dafür gebe, dass er „krankhaft homosexuell“ sei.

An einer Hörstation der neuen Dauerausstellung berichtet der einstige Polizeihauptkommissar Erich Bünte, wie er Anfang der 1960er-Jahre in einem Park in Braunschweig als Lockvogel eingesetzt wurde. Wurde er von einem Mann in eindeutiger Weise angesprochen, kamen andere Polizisten aus ihren Verstecken und nahmen den Mann fest. Der Paragraph 175 wurde erst 1969 so geändert, dass einvernehmliche sexuelle Handlungen unter erwachsenen Männern nicht mehr als Straftat galten. Erst 1994 wurde er abgeschafft.

Der Paragraph gegen „Gewohnheitsverbrecher“ wurde 1970 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Harry Christ musste dennoch mehr als zehn Jahre seiner Strafe in Wolfenbüttel absitzen. Seine Haftzeit, in der er als Koch in der Anstaltsküche arbeitete, wurde schließlich nicht in die Berechnung seiner Rente einbezogen – bis heute erwerben Gefangene aus ihrer Arbeit in einem Gefängnis keine Rentenansprüche. Christ musste im Alter entsprechend mit deutlich weniger Geld auskommen als Staatsanwalt Ottersbach – der bezog nämlich 41 Jahre lang eine Beamtenpension.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.