So waren die 10er-Jahre: Glorioser Schlussstrich

Die 10er-Jahre gehen zu Ende. Wissen Sie noch, wie alles anfing? Hier kommt der beste Jahrzehntrückblick, seit es Jahrzehntrückblicke gibt.

Mann rennt mit Feuerwerk in der Hand an Silvester über eine Brücke in Berlin kreuzberg.

Berlin: Menschen feiern Silvester, als ob es kein Morgen gäbe. Gibt's ja vielleicht auch nicht Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Die 2010er Jahre waren ein großer Spaß. Jammerschade, dass sie nun schon enden, da es gerade erst am schönsten wurde. Würdigen wir doch dieses echte Klassejahrzehnt wenigstens zum Abschluss mit einem kleinen Überblick über die Geschehnisse in Deutschland und der Welt.

Die Auswahl der Ereignisse richtet sich nicht nach deren Tragweite. Bewusst werden hier unbedeutende, aber zeittypische Döneken wie der Klimawandel neben Jahrtausendevents wie die Heirat von Prinz William mit Kate Dingsbums im Jahr 2011 gestellt. Im Wechsel Information und Unterhaltung – es ist das Sendung-mit-der-Maus-Prinzip.

Doch beginnen wir chronologisch. Im Dezember 2010 löste die Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi den arabischen Frühling aus. Proteste gegen Willkür, Armut und eine korrupte politische Kaste sprangen auf die gesamte arabische Welt über, beseitigten Regime, ließen Hoffnungen keimen, und mündeten am Ende fast überall doch wieder in neue Regime und alte Hoffnungslosigkeit. Ein früher Bogenschluss sei hier gestattet, denn das Jahrzehnt, das mit dem arabischen Frühling begann, geht nun offenbar mit einem lateinamerikanischen Winter zu Ende.

Und auch in Deutschland ging es rund. 2011 erfolgte die Selbstenttarnung des NSU durch die Suizide der NS-Uwes und die Verhaftung Beate Zschäpes. Erst dadurch wusste man auf einmal, was man doch nie wissen wollte: dass ein rechtsextremes Terrornetzwerk über Jahre hinweg, von den Behörden schon mehr unterstützt denn nur wohlwollend begleitet, morden konnte.

Tiefkühllasagne mit Pferdefleisch

Bis dahin war man selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Morde an türkischstämmigen Kleinunternehmern nur etwas mit deren mafiösen Strukturen, Gammeldöner, Schutzgeld, Rotlicht und sonstigem Ficki-Ficki zu tun haben konnten. Derart ansteckend war dieses untrennbar mit der Kultur der Musels verhaftete Fehlverhalten, dass kollateral sogar ein Grieche und eine Thüringerin mit in den Strudel jener ärgerlichen Sache gesaugt wurden.

Der Prozess begann erst 2013 und dauerte bis 2018. So lange zog sich das Verschleiern von Fakten, zufällige Sterben von Zeugen, Vereiteln von Ermittlungen, Behindern von Untersuchungsausschüssen und Schreddern von Akten durch den Verfassungsschutz hin. Als Zschäpe zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, war der gloriose Schlussstrich unter die kompletteste kriminalistische Aufarbeitung auf deutschem Boden seit der lückenlosen Entnazifizierung in der Nachkriegszeit gezogen.

Nun aber endlich zu etwas wirklich Wichtigem: 2013 war auch das Jahr des europäischen Pferdefleischskandals: Im Rindfleisch tauchte unversehens Pferdefleisch auf. Erst dachte man logischerweise, die Rinder hätten halt Pferde gegessen, mit denen sie die Weide teilten. Das kann passieren. Man kennt das vom Stierkampf, dass so eine Kuh auch mal ein Pferd aufschlitzt. Auf einmal aber enthielt die Tiefkühllasagne hundert Prozent Pferdefleisch. Die Leute staunten: So viel Pferd kann eine Kuh ja praktisch gar nicht essen.

So what, möchte man denken: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß; andere Tiere geben auch schöne Schnitzel; wer heutzutage Fleisch isst, muss sowieso mit allem rechnen. Doch eine Hauptsorge war, das Fleisch könne von unkontrollierten Sportpferden stammen. Der Genuss hätte dann ähnliche Folgen wie der Verzehr eines gedopten Radrennprofis (ersatzweise ginge auch Zuchtlachs): Ebenso gut könnte sich der Konsument auf dem Bayer-Werksgelände kopfüber in den Kessel mit dem Zaubertrank stürzen.

Besorgte Bürger und #MeToo

Etwa zur gleichen Zeit legte der deutsche Papst Benedikt XVI., womöglich bedröhnt vom Pferdefleischgenuss, überraschend sein Amt nieder, ohne wie in seinem Job üblich, zuvor zu sterben. Seitdem schwebt die Schande Gottes über unserem Land. Der Gewinn des WM-Titels 2014 konnte das kaum kompensieren, umso weniger noch, da der unterlegene Finalgegner Argentinien mal eben lässig seinen eigenen Papst ins Schneckenrennen um die lamste Petersplatz-Performance schickte: Franziskus gilt als äußerst gemäßigt, da er wie jeder gute Papst natürlich Schwule hasst, aber dennoch dazu aufrief, sie nicht ständig zu verkloppen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Nicht zuletzt in Folge des gescheiterten arabischen Frühlings kam es um 2015 herum zur sogenannten Flüchtlingskrise. Die Leute flohen aus ganz Afrika, dem Irak, Afghanistan und besonders aus Syrien, Opfer des eskalierenden Bürgerkriegs um den Autokraten Assad, der lieber ein totes Volk ritt als aus dem Sattel zu steigen. Der erstarkende IS sorgte noch für zusätzlichen Druck auf dem Kessel. In der Folge kam es so auch in Europa vermehrt zu Anschlägen. In Deutschland kostete der Wahnsinn jährlich hundertfünfzigtausend Menschenleben. Allein durch Rauchen, Alkohol und Autounfälle; außerdem kamen ein paar Einheimische durch Flüchtlinge zu Tode. Dagegen sowie gegen den Anblick Fremder, die im Wald an deutschen Bushaltestellen herumlungerten, gingen nun wieder massenhaft Bürger auf die Straße, und äußerten ihre gelinde Besorgnis.

Hinter dem großen Leid der Überfremdeten wäre #MeToo beinahe untergegangen. Unter diesem Hashtag mahnten 2017 Millionen Frauen im Zuge der Weinstein-Affäre ihren Wunsch nach halbwegs humanoidem Anstehverhalten vor der Fleischtheke der Geschlechter an. Die deutschen Männer hielten sich zunächst bedeckt. Zum Glück betraf es sie ja nicht. Von diesem einen Typen abgesehen, den eh schon immer alle doof gefunden hatten, hielten sie die deutsche Mutti, das deutsche Mädel traditionell in Ehren wie einen wertvollen Schatz mit goldenen Zöpfen. Schien dieser Schatz von Ausländern bedroht, warfen sie sich im Nachklapp wie Löwenpapis hinter die dankbaren Frauen.

Zwei weitere Themen haben das Jahrzehnt geprägt: die internationalen Erfolge des Rechtspopulismus und der Klimawandel. Verstärkt durch die in den Zehnerjahren explodierende Digitalisierung der Gesellschaft überhitzte sich das Diskussions- analog zum Weltklima. Selbst die in Deutschland oft unter Drittweltniveau liegende Netzlogistik vermochte das nicht zu verhindern.

Deutschland, ein prokrastinierender Dauerkiffer

An letzterer soll in den kommenden Jahrzehnten ohnehin gearbeitet werden – so ist es immerhin angedacht. Ebenfalls vielleicht so ein bisschen angedacht sind: Tempolimit, Öko-Wende, Ermittlungen gegen rechte Terrornetzwerke. Wäre Deutschland eine Person, wäre sie ein leicht depressiver, unheimlich langsamer, in einem fort leerdrehend von irgendwelchen Plänen salbadender, prokrastinierender Dauerkiffer. Harmlos, nicht völlig unsympathisch, aber auch ein wenig lebensuntauglich. Der Deutsche ist kein Panther.

Zurück zum Rechtspopulismus. Alles, was speziell die westliche Welt seit dem Zweiten Weltkrieg an zivilgesellschaftlichen Errungenschaften mühsam und unter Rückschlägen aufgebaut hat, reißt sie allein in den letzten paar Jahren mit dem Arsch komplett wieder ein. In ehemals fortschrittlichen Ländern werden offensichtliche Vollidioten zu Regierungschefs gewählt und mit ihnen ihre regressiven Programme aus der Buddelkiste. Der böse Clown (Trump), der lustige Lügenkasper (Johnson) und der Sultan Hanswurst (Erdogan), um nur die Spitzen dieses Narrenheeres der halbstarken Schwanzvergleicher und verantwortungslosen Verrückten zu nennen. Aus jedem zweiten Fernsehbild grinst uns heute der Joker entgegen. Batman ist tot.

Der bürgerliche Träumer hatte gehofft, ein Politikstil des erhobenen Sandschäufelchens wäre ein Auslaufmodell

Natürlich gab es die Idioten schon immer. Nero, Hitler, Idi Amin – die Namen sind sonder Zahl. Dennoch hätte der bürgerliche Träumer gehofft, ein Politikstil des erhobenen Sandschäufelchens wäre ein Auslaufmodell, zumindest innerhalb gefestigter demokratischer Strukturen. Doch das ist ein Irrtum. „Gefestigt“ ergibt als Begriff nur im Backhandwerk Sinn, und die Menschen waren schon immer Arschlöcher. Sie haben es nur nicht so raushängen lassen.

Mit dem Siegeszug der sozialen Netzwerke liegt unser wahres Wesen nun offen auf dem Tisch. Es wirkt absurd, dass sich Leute, die jenen Honks aus dem Neander Valley freiwillig das Zepter in die infantilen Pfoten drücken, in ihrem ach so würdevollen Erwachsenending hinterfragt fühlen, nur weil ihnen eine Sechzehnjährige die Leviten liest. Das tut sie schließlich zu Recht.

Wettgewinne für den Teufel

Womit wir nun endlich beim Klima wären. Tja, das Klima ist schlecht. Eigentlich gibt es nicht viel mehr dazu zu sagen, höchstens dies: Wenn wir nicht mindestens das 2-Grad-Ziel aus dem Paris Agreement 2015 erreichen, und zwar pronto, werden wir alle sterben – den meisten Tierarten haben wir ja bereits einen letzten Gruß hinterhergewinkt.

Hohe Wetten laufen darauf, ob die Zivilisation wegen der Verteilungskämpfe in Folge des Klimawandels implodiert, oder weil sich schon vorher alle wegen des Internets massakrieren. Die Wettgewinne wird wohl nur noch der Teufel einstreichen. Davon kann er sich allerdings nicht mal ne Limo kaufen. Allein bleibt er in der Gesellschaft einer Bombastilliarde Kakerlaken in der leeren Festung Europa zurück. Doch das werden wir frühestens in den 2020ern erleben; es bleibt also spannend.

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Auch Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ reißen die Massenproteste nicht ab. Ein ganzes Jahrzehnt ist tief durch die Arabellion geprägt. Im Schwerpunkt-Dossier „Zehn Jahre Arabischer Frühling“ berichten taz-Korrespondent*innen und Gastautor*innen aus den Umbruchsländern vom Maghreb über Nordafrika bis nach Syrien, den ganzen Nahen Osten und die arabische Halbinsel.

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