Historisches Schwarzweißfoto von Stephen West vor Gericht.

Der junge Steve West 1987 mit seinem Anwalt Foto: Knoxville News Sentinel

Todesstrafe in den USA:Ein Kreislauf der Gewalt

Stephen West wurde zum Tode verurteilt und im Jahr 2019 in Tennessee hingerichtet. Er war ein Mörder. Und er war psychisch krank.

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Aus nashville, 31.12.2019, 11:03  Uhr

Einen Menschen an einen Stuhl zu fesseln und so lange Stromstöße durch seinen Körper zu jagen, bis er stirbt, erfordert vor allem eines: Bürokratie. Das Elektrokutionsprotokoll des Bundesstaates Tennessee umfasst 93 Seiten. Darin steht jedes Detail: Wer anwesend sein muss (Gefängnisdirektor, Kaplan, Arzt); wie viele Briefe der Häftling noch schreiben darf (erlaubt sind 12 Blätter Papier, 3 frankierte Umschläge, 3 Bleistifte); welche Kabel wann in welche Kästen gesteckt werden und wer die Kochsalzlösung anrührt, um Naturschwämme damit zu tränken und sie zwischen Haut und Elektroden zu schieben.

Im Jahr 2019 wurden in den Vereinigten Staaten 22 als Mörder Verurteilte hingerichtet. 20 von ihnen starben durch die Giftspritze. Stephen Michael West zögerte bis zum Abend vor seiner Hinrichtung, dann wählte er den elektrischen Stuhl.

Wer war dieser Mann? Ein brutaler Gewalttäter, lautet eine korrekte Antwort. Ein in einem ungerechten Prozess verurteilter Schwersttraumatisierter, so lautet eine andere, genauso wahr.

Diese beiden Wahrheiten finden sich auch in Dokumenten und Gutachten aus verschiedenen Phasen von Wests Berufungsprozess, die von einem unsagbar grausigen Tötungsdelikt zeugen, aber auch davon erzählen, wie physischer und psychischer Missbrauch in der Kindheit einen Menschen daran hindern, jemals richtig Mensch zu werden.

Der Fall stellt die Systemfrage

Man erfährt sie auch, wenn man mit Wests Anwalt spricht, mit dem letzten Hinterbliebenen der Opfer und mit dem Staatsanwalt, der damals ermittelte. Es gibt eidesstattliche Aussagen von Wests Geschwistern und von seinem Vater, und es gibt die heimliche Aufzeichnung eines Gesprächs, in dem ein anderer gegenüber einem Mithäftling den Mord gesteht, für den Stephen Michael West zum Tode verurteilt wurde.

In seiner Widersprüchlichkeit stellt der Fall West die Systemfrage: Was ist das eigentlich für ein Rechtsstaat, der sich von Emotionen wie Rache und Vergebung leiten lässt? Gleiches mit Gleichem zu vergelten – kann es jemals so einfach sein?

Die Gewalt, die Stephen Michael Wests Leben bis zu seinem letzten Atemzug prägen wird, setzt mit seiner Geburt 1962 in einer psychiatrischen Anstalt ein. Seine Mutter hatte während der Schwangerschaft versucht, sich mit Gas aus dem Küchenofen das Leben zu nehmen.

Laut eidesstattlichen Aussagen seiner älteren Schwester Debbie wird das Neugeborene brutal misshandelt, sobald es nach Hause kommt. „Wenn er weinte, wurde er an einem Arm und einem Bein hochgehoben und gegen die Wand gehauen, damit er aufhörte. Wenn unser anderer Bruder etwas falsch machte, bekam Steve die Schläge dafür.“ Schläge mit Fäusten, Gürteln, Besen. Einmal bekommt Steve einen so heftigen Hieb, dass er zu schielen beginnt.

Eine Kindheit wie ein Albtraum

Der Vater Vestor ist ein gewalttätiger Alkoholiker. Aber die Grausamkeit der Mutter kennt keine Grenzen. Wanda West ist tablettenabhängig, bekommt sie mal keine, dann ist es, als sei „Satan zurück aus der Hölle gekommen“, gibt Bruder Teddy später zu Protokoll. Keines der Kinder kann sich laut der Aussagen, die sie für spätere Gnaden­ersuche ihres Bruders gemacht haben, daran erinnern, dass Wanda Steve jemals gehalten oder gefüttert hätte.

Sie schmuggeln Babyfläschchen mit verdünntem Ketchup in das dunkle Hinterzimmer, in dem er auf einer uringetränkten Matratze liegt, und bekommen dafür Schläge. Manchmal, erzählen sie später, müssen sie draußen im Schnee stehen und dürfen erst bei Einbruch der Dunkelheit ins Haus, während Wanda sich einen Vierjährigen aus der Nachbarschaft ins Haus holt, ihm zu essen gibt und ihn fernsehen lässt.

Es gibt eine bestimmte Hierarchie im Hause West: Erst isst die Familie, dann essen die Hunde, und dann bekommt Steve, was übrig geblieben ist

Alle West-Kinder werden verprügelt und vernachlässigt, aber Wanda hasst Steve besonders. Es gibt eine bestimmte Hierarchie: Erst isst die Familie, dann essen die Hunde, und dann bekommt Steve, was übrig geblieben ist.

Aber er protestiert nicht. Er schlägt auch nicht zurück. „Sehr, sehr passiv“ sei er gewesen, sagt seine Schwester Patty darüber später. „Er hat alles eingesteckt, egal wer es ihm angetan hat.“

Als Stephen Michael West schließlich austeilt, ist er längst erwachsen, und es trifft ausgerechnet jemanden, der ihm überhaupt nichts getan hat. Eine Frau, die mit seiner Mutter nichts gemein hat als den Vornamen. Die eine Wanda quälte ihn, die andere quälte er.

Polizeifoto von Stephen West.

Steve West im Gefängnis Foto: Tennessee Department of Corrections/picture alliance

Das führt zu diesem 15. August 2019, einem sogar für Südstaatenverhältnisse ungewöhnlich heißen Tag. In Knoxville, East Tennessee, ist es schon kurz nach sieben Uhr, im drei Autostunden und eine Zeitzone entfernten Nash­ville hat Stephen Michael West jetzt noch knapp eine Stunde zu leben. Am Abend vorher haben die Lokalmedien gemeldet, West habe ein Käse-Steak-Sandwich und Pommes als letztes Mahl gewählt.

Rund um einen kleinen Park im Zentrum Knoxvilles sitzen Obdachlose zwischen Einkaufswagen, lauschen den Grillen und Motorrädern und bestaunen die Männer und Frauen, die mitten auf der Wiese einen Kreis bilden, als wollten sie ein feierliches Ritual abhalten. In gewisser Weise tun sie das auch. „Wir kommen zusammen als Menschen, die die Gewalt in der Welt bekümmert.“ Ralph Hutchison führt das Wort, ein freundlicher älterer Mann mit Vollbart und Gandhi-T-Shirt, der hauptberuflich Umweltaktivist ist.

Seit 2000, als der Bundesstaat Tennessee die Hinrichtungen nach 40-jähriger Pause wiederaufnahm, veranstalten Hutchison und die anderen am Tag jeder Hinrichtung eine solche Mahnwache; sie beten und singen und sprechen Leute an, es ihnen gleichzutun. Oder besser gesagt: Sie versuchen es. Heute sind immerhin zwölf Leute da, „ist ja auch schönes Wetter“, sagt der Fotograf der Lokalzeitung, der Reporter ist erst gar nicht gekommen.

Schwindendes Mitgefühl

Studien ergaben, dass weniger als die Hälfte der Amerikaner*innen die Todesstrafe gutheißt. Aber nur ein Bruchteil der Gegner*innen geht auch aktiv dagegen vor. Die Passanten, die stehen bleiben, sie haben gar nicht mitbekommen, dass heute jemand hingerichtet werden soll.

Dass ein Mann mit psychischer Erkrankung hingerichtet wird, finden sie erst einmal schlimm. Hören sie aber vom Hergang des Verbrechens, an dem er beteiligt war, schwindet ihr Mitgefühl rapide – obwohl sie allesamt, wie sie sagen, eigentlich gegen die Todesstrafe seien.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Am Morgen des 17. März 1986 ist es noch dunkel, als zwei junge Männer an das kleine blassgelbe Haus der Familie Romines klopfen, hoch oben in der grün behügelten Einsamkeit East Tennessees. Jack, der Vater, ist schon auf dem Weg zur Arbeit. Nur Wanda, Mutter von fünf Kindern, und ihre jüngste Tochter Sheila, 15 Jahre alt, sind zu Hause.

Sheila kennt einen der beiden Besucher aus der Schule: Ronnie Martin, einen blassen, teigigen Siebzehnjährigen mit Posaunenengelfrisur. Ronnies Begleiter Stephen Michael West, genannt Steve, ist größer und älter als er, schlank und schnauzbärtig, ein flüchtiger Bekannter von der Arbeit bei McDonald’s. Sie haben sich in den vergangenen Morgenstunden nach ihrer Schicht zugeknallt, so gut es eben geht hier oben am südlichen Rand der Appalachen, in Union County, wo auch heute noch kein harter Alkohol verkauft werden darf.

32 Jahre in der Todeszelle

Wanda Romines und ihre Tochter sterben noch an diesem Morgen, übersät von Dutzenden Messerstichen. Der Gerichtsmediziner wird später zu Protokoll geben, dass die meisten ihrer Wunden nicht tief waren, sondern auffallend oberflächlich. Flüchtige Stiche und Schnitte, vielleicht am Anfang nur einer, zwei, dann immer mehr. Beiläufig zugefügt, wie zum Vergnügen. „Typische Folterwunden“, steht in den Akten. Und Sheila wurde vergewaltigt.

Stephen West stirbt durch wiederholte Stromstöße von 1.750 Volt, nachdem er 32 Jahre in der Todeszelle verbracht hat.

In der Logik des US-amerikanischen Rechtssystems ist die Schuld an allen drei Toden an ein und derselben Stelle zu suchen: Wer getötet hat, hat es verdient, getötet zu werden. West wird von einem Geschworenengericht des zweifachen Mordes, der Vergewaltigung und Freiheitsberaubung schuldig befunden und zum Tode verurteilt. ­Ronnie Martin bekommt „lebenslänglich“, er war zum Tatzeitpunkt noch nicht volljährig.

Für Wests Verteidiger und seine UnterstützerInnen ist es komplizierter. Warum erzählte Ronnie Martin später einem Mithäftling, dass nicht West, sondern er selbst die tödlichen Stiche ausgeführt habe? Welche Rolle spielt die Misshandlung Wests als Kind? Welche die Tatsache, dass er mutmaßlich schon zum Tatzeitpunkt unter einer schweren – und unbehandelten – psychischen Störung litt?

Die Misshandlung kommt ans Licht

Die Jury, die Stephen West zum Tode verurteilt, erfährt nichts von den Schlägen und dem Hunger und auch nichts von den vermutlich schon 1986 da­raus resultierenden gravierenden psychischen Störungen – weil die Verteidigung nichts davon einbringt. Wieder ist es die Mutter, die Steve bestraft.

Sie bezahlt einen Anwalt für ihren Sohn, der ihn im Mordprozess verteidigen soll. Richard McConnell, so heißt dieser Verteidiger, führt ein Vorgespräch mit den Eltern, in dessen Verlauf die Sprache auf Stephen Wests geistige Verfassung kommt und Wanda ihm mit sofortiger Kündigung droht, sollte er Zeugen aufrufen, die über etwaige Misshandlungen in der Kindheit sprechen könnten.

Erst 1998, nach 11 Jahren im Gefängnis, als Stephen West durch verschiedene Instanzen erneut Berufung gegen sein Todesurteil einlegt – und schlussendlich nur einen zeitlichen Aufschub erreicht –, gibt der Vater eine eidesstattliche Erklärung ab. Darin schildert er nicht nur das Gespräch mit dem Anwalt von 1986, sondern auch das, was in Wests Kindheit geschah: „Wir haben ihn mit bloßen Händen geschlagen, mit Stöcken, Flaschen oder dem, was gerade zur Hand war.

Es gab immer Misshandlungen. Ich hätte das auch vor Gericht ausgesagt, aber Mr. McConnell ließ mich nicht.“ Der Anwalt habe sich auf Druck Wanda Wests geweigert, mit ihm zu sprechen. Ähnliches geben die Geschwister zu Protokoll. Aber diese Aussagen ändern nichts.

1986 hat sich Stephen West in Widersprüche verstrickt. Während die Suche nach den Tätern läuft, schiebt er seine Schicht bei McDonald’s, als sei nichts geschehen, was vonseiten der Staatsanwaltschaft als Zeichen besonderer Kaltblütigkeit gewertet wird. Als er einen Tag später gefasst wird, erklärt er zuerst, die Frauen seien wohlauf gewesen, als er das Haus verlassen habe.

Wenig später gibt er zu, bei den Folterungen dabei gewesen zu sein, schließlich gesteht er auch die Vergewaltigung ­Sheilas. Auf zwei Punkten aber beharrt er: Ronnie Martin habe die beiden Frauen schließlich getötet – und Ronnie habe ihn, West, mit einer Schusswaffe bedroht. Aus Angst also habe er mitgemacht, aus Angst habe er Martin nicht an dem Mord gehindert. „Ich könnte nicht mal einen Fisch ausnehmen“, wird er in den Gerichtsakten zitiert.

Menschen stehen im Freien im Halbkreis, ein Mann enzündet Kerzen.

Eine Mahnwache für Steve West am 15. August 2019 in Knoxville, Tennessee Foto: Knoxville News Sentinel/picture alliance

Die Jury glaubt ihm nicht. Und weil sie nichts von seiner Vorgeschichte erfährt, zieht sie auch nicht in Betracht, dass sein von mehreren an dem Prozess Teilnehmenden beschriebenes Zittern, seine mäandernden Aussagen über die Tat nicht etwa Kalkül, sondern Ausdruck einer ernsthaften Erkrankung sein könnten.

Jahre später werden mehrere medizinische Gutachter Stephen West eine schwere schizoaffektive Störung bescheinigen, die, so heißt es in einem der Gutachten, „mindestens bis ins Jugendalter“ zurückreiche. Sie vermuten, dass deren Entwicklung mit Hirnschäden infolge physischer Gewalt in Wests Kindheit zusammenhängt. Zu den Symptomen gehören Halluzinationen, Paranoia, manisch-depressive Schübe und das Hören von Stimmen. Bis zuletzt wird West mit starken Medikamenten behandelt.

Keine Hoffnung auf Gnade

Hätte so jemand zum Tode verurteilt werden dürfen? Aus europäischer Perspektive klingt die Frage seltsam. Aber das US-amerikanische Rechtssystem funktioniert nach diesem Prinzip: Es ist grundsätzlich gerecht, mit dem Tod zu strafen – bei einigen mehr als bei anderen. So sieht die Verfassung eine Ausnahme für Menschen mit geistiger Behinderung vor.

Aber darunter fällt Stephen Michael West nicht, und die besondere Brutalität seines Verbrechens macht die Hoffnung auf Gnade umso geringer. Eine Reform des capital punishment scheint unter Donald Trump, der einem Whistleblower kürzlich unverhohlen mit der Todesstrafe drohte und dessen Justizminister kurz davor bekannt gegeben hatte, bald wieder Hinrichtungen auf Bundesebene durchführen zu wollen, ferner denn je.

Lässt man sich auf die Logik ein, dass es grundsätzlich okay sei, als strafrechtliche Maßnahme das Leben eines anderen Menschen zu beenden, so stößt man in diesem Fall trotzdem an ihre Grenzen. Denn die Antworten auf die Frage, ob das Todesurteil über Stephen Michael West richtig war, könnten unterschiedlicher nicht ausfallen. Je nachdem, wen man fragt.

Da ist Stephen Ferrell, Wests letzter Verteidiger, der ihn in den letzten 15 Jahren vertrat und bis zum Ende versuchte, geltend zu machen, dass West bei dem grausamen Verbrechen zwar zugegen war, die Frauen aber nicht getötet habe. Er sagt: „Steve hat sich Gedanken gemacht über andere. Er war kein Soziopath, er hatte eindeutig Empathie. Für mich passt das nicht zu einem kaltblütigen Mord.“

Hätte so jemand zum Tode verurteilt werden dürfen? Aus europäischer Perspektive klingt die Frage seltsam

Da ist Sarah McGee von der Tennessean Alliance for the Severe Mental Illness Exclusion, kurz TASMIE, einer gemeinnützigen Organisation, die sich dafür einsetzt, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen von der Todesstrafe ausgenommen werden. Für sie ist Stephen West ein Beispiel für das, was nicht passieren sollte und dennoch viel zu häufig passiert. „Jemand, der psychisch krank ist, hat es in der Strafgerichtsbarkeit oft automatisch schwerer“, sagt McGee.

Da ist aber auch Eddie Campbell, ein entfernter Verwandter des 2008 verstorbenen Jack Romines, Ehemann und Vater der Getöteten, der die Familie ­offiziell vertritt. „Ich denke, er lügt“, sagt er über West zwei Tage vor dessen Hinrichtung schwer atmend ins ­Telefon. Eigentlich, sagt er weiter, habe er gegenüber der Todesstrafe gemischte Gefühle. In diesem Fall bedaure er nur, dass es 33 Jahre gedauert habe, bis West seine gerechte Strafe bekomme. „Jack hat nie mehr Gerechtigkeit für Wanda und Sheila erfahren. Aber ich hab ihm versprochen, dass ich dranbleibe.“

Und da ist William Paul Phillips, der damals der ermittelnde Staatsanwalt von Union County war und noch heute aufbrausend wird, wenn man ihn nach Wests Schuldfähigkeit fragt. „Ich glaube noch immer kein Wort von diesen Geschichten“, sagt er im breiten Akzent der Appalachen. „Man musste ihn nur ansehen. Ronnie Martin war klein und schmächtig. West groß und kräftig.“ Phillips war der Staatsanwalt, der West und Martin damals angeklagt hat. Im Laufe des Telefonats mit der taz wiederholt er diesen Hinweis auf Wests Äußeres noch zweimal, als sei es das stärkste Indiz für dessen Schuld.

Hat Stephen West gelogen, als er sich als von Panik getriebenen Mitläufer schilderte? Oder musste er wirklich Angst vor Ronnie Martin haben? Tatsächlich wird später eine Pistole in einem Gully gefunden, die offenbar an jenem Morgen aus dem Haus entwendet worden war.

Brieffreunde beschreiben West als „respektvoll“

Doch Wests Beteuerungen, Martin habe ihn unter Druck gesetzt, werden ihm letztlich erst recht zum Verhängnis. Es zeuge von „Feigheit“, dass er, der körperlich Überlegene, Martin habe gewähren lassen, heißt es im Plädoyer eines Richters am Tennessee Supreme Court in Nashville, der 1989 Wests Antrag auf Wiederaufnahme seines Verfahrens ablehnt. Als könnte man durch körperliche Überlegenheit etwas gegen eine Schusswaffe ausrichten.

Im Grunde ist es aber unerheblich, ob West die tödlichen Stiche ausgeführt hat oder nicht. Es genügt, dass er sie nicht verhindert hat. In Tennessee gibt es die Regelung, dass, wenn der Straftatbestand des sogenannten felony murder vorliegt – eines schweren Tötungsdelikts im Rahmen eines Raubüberfalls oder einer Vergewaltigung –, die Komplizen eines Mörders die gleiche Strafe wie dieser bekommen können.

„Der Angeklagte war fraglos maßgeblich an dem Überfall, der Vergewaltigung und den Morden beteiligt“, schreibt der Tennessee Surpreme Court 1989 über West. „Sein Geisteszustand ist der einer rücksichtslosen Gleichgültigkeit gegen den Wert des menschlichen Lebens.“

In dem Flyer, den Ralph Hutchison bei der Mahnwache verteilt hat, wird ein regelmäßiger Besucher des Todestrakts zitiert: „Stephen liebte es, Blumen zu zeichnen. Dabei hat er seit 32 Jahren keine Blume mehr berührt.“ Das Gnadengesuch, das Anwalt Ferrell und seine Kollegen noch wenige Wochen vor der geplanten Hinrichtung an den Gouverneur von Tennessee schickten, beschreibt, wie West nach dem Verbrechen zu Gott gefunden habe. Brieffreunde beschreiben West darin als „respektvoll“ und „weise“.

Die Arbeit, die in diesem 28-seitigen Bittbrief steckt, ist nicht nur ein letztes Aufbäumen von Wests Unterstützerinnen und Unterstützern, die jahrzehntelang gegen das Urteil gekämpft haben. Sie zeigt auch, wie sehr das US-Rechtssystem von Moral und gefühlter Richtigkeit geprägt ist.

Es wirkt beinahe wie ein Ablasshandel: In der einen Waagschale liegen die Grausamkeit des Verbrechens und der Schmerz der Hinterbliebenen. In der anderen die Erfahrung von Gewalt und die Krankheit des Täters, aber auch sein Weg zum Glauben, der hier in den gläubigen Südstaaten genauso Argument ist wie belegbare Fakten – vielleicht sogar das erfolgversprechendste.

Der Gouverneur hat das Gesuch dennoch abgelehnt. Wie all die anderen Berufungsverfahren, Petitionen, Briefe Wests in den Jahrzehnten davor blieb auch dieser Versuch erfolglos. Gewundert hat das niemanden. Nur zu leicht ist es ja, sich der moralischen Komplexität des Falles zu verweigern.

Am Freitag, dem 16. August, Stephen Michael West ist seit gut 20 Stunden tot, sitzt Stephen Ferrell auf seinem Sofa in einem der endlosen Villenvororte von Knoxville. Der Anwalt trägt ein blau gestreiftes Polohemd und sportliche Shorts. Seit 25 Jahren vertritt er ausschließlich Todeskandidaten als Pflichtverteidiger. „Mit Steve konnte man so ziemlich über alles reden“, sagt er.

Abschied via Telefon

„Über den Fall, klar, aber auch über das Leben, über meine Familie. Einmal ärgerte ich mich, weil mein Computer mich nicht auf eine Datei klicken ließ, und er fragte: Klicken? Was ist denn das? Da wurde mir klar: Er hatte noch nie einen Computer gesehen. Er hatte keine Ahnung, was ich da tat. Das hat mir das Herz gebrochen.“

Die Frage, wie sehr er von Wests Unschuld überzeugt ist, will er nicht endgültig beantworten. Aber er möchte erzählen, mit wem Stephen West zuletzt gesprochen hat: mit seinem Team, zehn Leuten, einer nach dem anderen kam ans Telefon, um sich zu verabschieden. „Steve hatte Spitznamen für jeden von ihnen. Meistens hatten diese Namen einen Bezug zu der Stimme der Person, denn obwohl er seit Jahren regelmäßig mit den Leuten telefonierte, hatte er ja keine Ahnung, wie sie aussehen. Aber trotzdem wurden sie Teil seines Lebens. Und er Teil des ihren.“

Der Hinrichtung selbst ist Ferrell ferngeblieben. Aber Eddie Campbell, der Hinterbliebene der Opfer, hat Stephen West beim Sterben zugesehen. „Ich hab ihm schon lange vergeben“, sagt er über West. „Jack hat das nie gekonnt, aber ich glaube, das ist es, was Gott von uns verlangt.

Stephen Michael West wird am 15. August 2019 um 19.27 Uhr Ortszeit für tot erklärt. Seine letzten Worte spricht er laut Augenzeugen unter Schluchzen: „Am Anfang schuf Gott den Menschen. Und Jesus weinte. Das war’s.“

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