Endstation Alexander­platz

Giovanni Maramotti lebt seit rund vier Jahren auf der Straße, eine Krankenversicherung hat er nicht, einen Pass ebenfalls nicht. Maramotti hat immer wieder schwere depressive Phasen – doch als obdachloser EU-Bürger hat der Italiener kaum eine Chance, mehr als eine Notfallversorgung im Krankenhaus zu bekommen. Unser Autor hat ihn über ein Jahr lang begleitet und berichtet von einer frustrierenden Odyssee durch die Hilfssysteme

Giovanni Maramotti kam 2013 aus Italien nach Berlin. Er ist Kaufmann, in Berlin wurde er obdachlos. Der Alexanderplatz ist eines seiner Reviere

Von Christian Schramm
und Christian Mang (Foto)

Im Sommer letzten Jahres besuchte ich fast täglich die Amerika-Gedenk-Bibliothek, ich hatte es als freier Journalist mit einer längeren Recherche zu tun und nutzte dafür die Bibliothek am Blücherplatz. Dabei fiel mir immer dieser wuchtige Mann auf: Obwohl seine heruntergekommene Kleidung und zwei prall gefüllte Plastiktüten ihn als Obdachlosen kennzeichneten, strahlte er eine große Würde aus.

Eines Tages traute ich mich, ihn auf einen Kaffee einzuladen. Er stimmte zu. Und so saßen wir immer häufiger bei einem Kaffee auf der Bank und redeten. Giovanni, so heißt er, hatte schon seit längerer Zeit seinen Lebensmittelpunkt in die Bibliothek verlegt – sie böte ihm Wärme, erzählte er mir, soziale Kontakte, eine kostenlose Toilette und Zugang zum Internet. Die Amerika-Gedenk-Bibliothek ist auch an Sonntagen geöffnet, und für einen Obdachlosen wie Giovanni ist dies gerade in der kalten Jahreszeit existenziell. Zudem fand er hier einen relativ sicheren Schlafplatz am Nachtschalter der Bibliothek. Giovanni war zuvor an anderen Plätzen mehrfach überfallen und geschlagen worden.

Mir bedeutete die aufkommende Freundschaft mit Giovanni bald sehr viel. Auch wenn es sich kitschig anhören mag: Ich verspürte eine tiefe Bewunderung für diesen zufrieden wirkenden Mann, trotzdem er beinahe alle Ängste auf seinen Schultern trug, die sich ein Mensch in Deutschland ausmalen kann: der Verlust des sicheren Heims, der Verlust aller finanziellen Mittel, eine ungewisse Zukunft und keinerlei Aussicht auf eine Rente. Manchmal stellte ich mir schmunzelnd vor, wie Giovanni als Experte in ausverkauften Hallen über Zukunftsangst und Gelassenheit spräche.

Irgendwann erzählte mir Giovanni seine Lebensgeschichte: Er stamme aus der kleinen Stadt Sassuolo im Norden Italiens. Die Gegend ist berühmt für ihre Keramikfliesen, er begann dort eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich und habe 13 Jahre im Vertrieb gearbeitet. Geschwister habe er keine. Seine Mutter, sagt er, habe unter einer bipolaren Erkrankung gelitten und mehrere Suizidversuche unternommen, die er miterlebte.

Giovanni sagt, er habe früh lernen müssen, selbstständig zu sein. Den Vater lernte er nie kennen. Als er elf Jahre alt gewesen sei, habe sich ein Onkel um ihn „gekümmert“, berichtet er mir – er habe ihn jahrelang sexuell missbraucht. Im Laufe der Jahre, seine Mutter war inzwischen gestorben, sei der Wunsch stärker geworden, Italien zu verlassen: wegen seiner Homosexualität sei er ausgegrenzt worden, die katholische Kirche sei einflussreich in seiner Heimatstadt.

Giovanni trifft eine weitreichende Entscheidung: Er kündigt seinen Job, löst seine Wohnung auf und reist mit seinem wenigen Ersparten im Jahr 2013 nach Berlin.

Schnappschuss aus besseren Tagen: Giovanni im Sommer 2014 in Schöneberg, wo er zunächst in einer WG wohnt Foto: privat

I. Aufbruch aus Italien, Absturz in Berlin

In einer schwulen Wohngemeinschaft in Schöneberg findet Giovanni ein Zimmer und feiert dort seinen 45. Geburtstag – die schönste Zeit in seinem Leben, erzählt er mir. In Berlin besucht Giovanni mit großer Hingabe Deutschkurse, er spricht die Sprache nahezu perfekt. Überhaupt liebt er Sprachen, auch Französisch und Englisch gehören zu seinem Repertoire.

Nach etwa zwei Jahren sind seine Ersparnisse aufgebraucht, und Giovanni landet auf der Straße. Die meisten Freunde von Giovanni wenden sich von ihm ab, als sie erfahren, dass er wohnungslos ist.

Zwar versucht Giovanni eine Arbeit zu finden, doch habe ihm, wie er selbst zugibt, die letzte Konsequenz dabei gefehlt. Giovanni hat immer wieder depressive Phasen, in denen er sich völlig zurückzieht.

Man unterschätzt schnell, was für eine enorme Anstrengung ein Leben auf der Straße mit sich bringt. Giovannis Taschen wiegen mindestens 20 Kilogramm, er hat sie jederzeit bei sich. Sein Essen und Trinken muss er sich täglich erbetteln, hinzu kommt die allabendliche Suche nach einem halbwegs trockenen und sicheren Schlafplatz.

Giovanni lernt durch Beratungsstellen und Mund-zu-Mund-Propaganda unter den Obdachlosen verschiedene Hilfsangebote kennen: Wann und wo warmes Essen verteilt wird, wo es Ausgabestellen für kostenlose Kleidung gibt und welche medizinischen Ambulanzen Menschen ohne Krankenversicherung versorgen.

Schon bald distanziert Giovanni sich von vielen Obdachlosen, er meidet Notschlaf-Unterkünfte, weil er sich dort häufig mit Gewalt und Suchtproblemen konfrontiert sieht. Immer wieder erklärt Giovanni in unseren Gesprächen: „Ich rauche nicht, ich trinke nicht, aber essen ist meine Sucht.“ Ängste und Sorgen versucht er mit Chips und billigen Süßigkeiten zu vertreiben, dafür reicht das Geld meist, das er von PassantInnen erbittet.

II. Schutzlos am Nollendorfplatz

Als ich im Herbst dieses Jahres von einer längeren Reise wieder zurück nach Berlin komme, ist Giovanni nicht mehr an seinem Stammplatz in der Bibliothek auffindbar. Ich frage Besucher, die mit ihm bekannt sind, doch niemand weiß etwas über seinen Verbleib. Schließlich suche ich die Orte ab, an welchen Giovanni sich für gewöhnlich aufhält.

Endlich finde ich Giovanni am Nollendorfplatz. Er liegt auf der Bank einer wenig genutzten Bushaltestelle, inmitten einer vielbefahrenen, vierspurigen Straße, während nur ein paar Meter über ihm im Minutentakt die U2 rattert. Es ist der letzte Ort, der einem vielleicht einfiele, um Schlaf zu finden, dafür sei es aber relativ sicher hier, sagt Giovanni – die belebte Straße ist auch ein Schutz.

Minutenlang schweigt Giovanni, er scheint immer wieder einzuschlafen. Seine sonst so wachen Augen sind starr und rot unterlaufen. Schließlich richtet er sich mühsam auf und sagt: „Christian, ich kann nicht mehr.“

Giovanni berichtet von dem Vorfall, der ihn veranlasste, die Bibliothek zu meiden. Einer der Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts habe ihn immer wieder angefeindet. Die Bibliothek äußert sich auf taz-Anfrage bisher nicht zu dem von Giovanni geschilderten Vorfall.

Giovanni, der am Nachtschalter der Bibliothek zuvor einen sicheren Ort hatte, sich zumindest geduldet fühlte, ist bitter enttäuscht über die Ablehnung.

Er beschließt, der Bibliothek völlig den Rücken zu kehren und verliert damit jenes Quäntchen Sicherheit, seine soziale Heimat. Schnell verfällt Giovanni in eine tiefe Depression, in völlige Selbstaufgabe. Auch sein rechtes Bein ist entzündet, er kann immer nur ein paar Schritte gehen.

Medizinische Hilfe für Unversicherte gibt es seit 2018 bei der Berliner Stadtmission in der Lehrter Straße: eine Clearingstelle, die Menschen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus, EU-Bürger:innen sowie Deutsche ohne ausreichenden Krankenversicherungsschutz unterstützt, auch eine Kostenübernahme medizinischer Behandlungen ist möglich. Laut der Senatsverwaltung für Gesundheit wurden die Mittel für die Clearingstelle im neuen Doppelhaushalt deutlich erhöht. Für Menschen, bei denen ein Versicherungsschutz über das Sozialamt oder die Jobcenter auch nach dem „Clearing“ nicht möglich ist – das betrifft vor allem mittellose EU-Bürger:innen und Menschen ohne Aufenthaltsstatus – wird mehr als eine Not- und Basisversorgung aber selten möglich sein.

Ein Fürsorgeabkommen zwischen 18 EU-Staaten – darunter auch Deutschland und Italien – wurde 2016 eingeschränkt: Seitdem erhalten EU-Bürger:innen in Deutschland nur noch dann Sozialhilfe oder Hartz-IV-Leistungen, wenn sie zuvor durch Beitragszahlungen ins deutsche Sozialsystem Ansprüche erworben haben. (mah)

Ich mache Giovanni das Angebot, ihn mit dem Auto abzuholen und zum Sozialamt zu fahren. Ich versuche, ihm Hoffnung zu vermitteln und ich glaubte auch selbst daran, dass es in Deutschland mit seinem weitreichenden Gesundheitssystem Hilfsangebote für Menschen in seiner Lage geben muss.

III. Vom Sozialamt in die Notaufnahme

Als wir am nächsten Tag das Sozialamt Tempelhof-Schöneberg betreten, haben wir kaum Wartezeit, bis wir zum ersten Termin vorgelassen werden.

Doch schon bald die völlige Ernüchterung: Niemand fühlte sich zuständig, denn immer fehlte ein entscheidendes Dokument: Giovanni kann keinen Mietvertrag vorlegen, er hat keine Krankenversicherung und auch keinen Pass – er sagt, der sei ihm gestohlen worden. Er hat nie in Deutschland gearbeitet, hat also auch keinen Anspruch auf Sozialleistungen (siehe Infokasten).

Die Beamten auf dem Amt sind zwar ungemein höflich und zuvorkommend, doch letztendlich verweist uns jeder an die jeweils andere Stelle. Schließlich verlassen wir das Amt ohne auch nur die kleinste Hoffnung auf Hilfe. Giovanni setzt sich draußen auf die Steinstufen und bricht zusammen: Er könne nicht mehr auf der Straße leben, sonst werde er sterben. Immer wieder deutet er an, sich das Leben nehmen zu wollen. Schließlich überzeuge ich ihn, in ein Krankenhaus zu fahren.

Einem Arzt in der Notaufnahme erzählt Giovanni von seiner völligen Hoffnungslosigkeit, den drängenden Suizidgedanken. Schließlich erklärt der Mediziner, dass ein Krankenhaus der falsche Ort für Giovanni sei, da aus seiner Sicht die Obdachlosigkeit der ursächliche Grund für die lebensmüden Gedanken seien.

Giovanni will schon aufstehen, um zu gehen, da schalte ich mich in das Gespräch ein und sage, dass auch ein Obdachloser an einer Depression erkranken könne, die nicht zwingend etwas mit seiner Wohnungslosigkeit zu tun haben muss (siehe Interview rechte Seite).

Doch der Arzt wiegelt ab. Nach längerer Diskussion erklärt er sich bereit, Giovanni zu untersuchen – unter der Bedingung, dass ich ihn dusche, da Giovanni in seinem Zustand dazu nicht in der Lage ist. Erst als ich Giovanni in einem kleinen Bad der Notaufnahme wasche, kommt mir ein verstörender Gedanke: Nur durch meine Anwesenheit bekommt Giovanni die Chance, medizinisch untersucht zu werden.

Ich empfinde Empörung, denke aber zugleich: Wie häufig gehen wir weiter, unternehmen nichts, wenn wir an einem auf dem Gehweg reglos ausgestreckten, verwahrlosten Menschen vorübereilen. Der Mensch könnte betrunken sein, höchstwahrscheinlich wird er schlafen – genauso könnte er aber auch einen Herzinfarkt erlitten haben. Würde dieser Mensch einen Anzug tragen, wäre die Reaktion wahrscheinlich eine andere.

Nach der Dusche untersucht der Arzt Giovanni. Er notiert in der Überweisung für die Kollegen der Psychiatrie: schwere depressive Episode, Suizidalität. Ich bin erleichtert, Giovanni wird stationär aufgenommen.

Bei meinem Besuch am nächsten Tag ist Giovanni völlig konsterniert. Anstatt eines Arztes habe ihn eine Frau von der Kostenstelle des Krankenhauses besucht. Sie habe ihm erklärt, dass er nicht lange bleiben könne. Schließlich suche ich ein Gespräch mit dem Arzt. Auch er deutet an, dass Giovanni nur kurz hier untergebracht werden könne, da die Kostenstelle Druck mache.

Die meisten Freunde wenden sich von ihm ab, als Giovanni wohnungslos wird

Noch am gleichen Tag telefoniere ich mit der italienischen Botschaft, um die Vorgehensweise für die Beantragung eines neuen Passes zu erfahren. Ich werde mit einem Mitarbeiter der Abteilung für Soziales verbunden. Er erklärt sich bereit, schon bald in die Klinik zu kommen, um Giovanni zu beraten. Inzwischen recherchiere ich im Internet, dass die Caritas über eine Krankenwohnung für Wohnungslose ohne Krankenversicherung verfügt – wieder kommt Hoffnung auf. Sogleich rufe ich in der Krankenwohnung an.

An Giovannis Entlassungstag sitzen Giovanni und der Sozialberater von der italienischen Botschaft in einem Besprechungszimmer der Station. Für die Beantragung eines neuen Ausweises brauche Giovanni einen festen Wohnsitz, erklärt der ungemein bemühte und verständnisvolle Sozialberater.

Er rät Giovanni, nach Italien zurückzukehren, da er dort Anspruch auf eine kostenlose Krankenversorgung hätte.

Doch für Giovanni erscheint eine Rückkehr nach Italien keine Option, er hat keinen Kontakt zu seiner Familie, sein Bekanntenkreis ist auf Berlin beschränkt. Der Sozialberater übergibt Giovanni seine Visitenkarte, er könne sich jederzeit bei ihm melden.

Nach dem Gespräch wird Giovanni aus dem Krankenhaus entlassen. Gemeinsam fahren wir zur Ambulanz der Caritas. Die Ambulanz wird ehrenamtlich von Krankenschwestern und Medizinern betreut.

Gleich nach der Untersuchung von Giovanni unterschreibt der Arzt ihm eine Überweisung in eine Krankenwohnung. Allerdings stellt sich heraus, dass für den heutigen Tag kein Platz mehr frei ist. Man bietet Giovanni an, dass er die Nacht in einer der Notübernachtungsstellen verbringen könne.

Doch Giovanni wiegelt ab, er will zum Nollendorfplatz. Ich fahre ihn dorthin mit dem Versprechen, gleich morgen wieder die Krankenwohnung zu kontaktieren. Als ich am nächsten Morgen nach Giovanni sehe, ist er verschwunden. Drei Tage suche ich nach ihm. Inzwischen meldet sich die Krankenwohnung, dass sie zurzeit keine Kapazitäten für Giovanni hätten, da viele Patienten mit psychischer Erkrankung aufgenommen wurden.

Immer stärker kommt bei mir die Befürchtung auf, dass Giovanni sich etwas angetan hat. Aufgrund eines dringlichen Termins muss ich an diesem Tag nach Hamburg, ein letztes Mal fahre ich zum Nollendorfplatz und finde Giovanni zusammengekauert an der Bushaltestelle liegend. Er sagt, er habe sich mehrmals an die Gleise der U-Bahn gestellt, er wolle sich umbringen. Er habe es nicht über sich gebracht, aber er werde es wieder versuchen.

Giovanni ruft immer wieder zwei italienische Wörter: „O capitano! Mio capitano!“ Später erklärt er mir, das habe er aus seinem Lieblingsfilm, „Der Club der toten Dichter“. Nach dem Suizid eines Mitschülers und der darauf folgenden Entlassung des geliebten Lehrers steigen die Schüler auf ihre Tische und rufen: Oh Käpt’n, mein Käpt’n!“.

Im Krankenhaus macht die Kostenstelle Druck: Er könne nicht lange bleiben

Ich versuche, Giovanni zu beruhigen, doch nichts dringt mehr zu ihm durch. Schließlich rufe ich einen Krankenwagen. Ich bitte die Sanitäter, Giovanni nicht in das Krankenhaus zu fahren, in dem wir das letzte Mal waren. Sie erwidern, das nächste Krankenhaus sei ohnehin woanders, dorthin würden sie ihn auch fahren. Ich verabschiede mich von Giovanni und verspreche, gleich nach meiner Ankunft in Hamburg im Krankenhaus an­zurufen und mich nach ihm zu ­erkundigen.

IV. Atempause in der Psychiatrie

Als ich am Abend mit der Telefonzentrale des Klinikums telefoniere, habe ich kaum Hoffnung, dass Giovanni aufgenommen wurde. Doch die Frau in der Zentrale findet einen Giovanni mit dem richtigen Nachnamen und verbindet mich auf die Station. Eine Schwester reicht das Telefon an Giovanni weiter, er sagt: „Ciao, hier ist Giovanni.“

Giovanni wird auf einer geschützten Station untergebracht und bekommt intensive therapeutische Hilfe. Währenddessen entwerfe ich zusammen mit ihm einen Flyer, in dem seine Situation geschildert wird. Wir formulieren eine Bitte um eine Unterkunft für eine begrenzte Zeit – Giovanni hätte dann eine Meldeadresse, mit der er einen Ausweis beantragen und sich beim Jobcenter melden könnte. Ich verteile das Flugblatt an öffentlichen Plätzen, in Kirchen und sozialen Einrichtungen, und poste es in den einschlägigen sozialen Netzwerken.

Leider kam bis zum heutigen Tag keine einzige Rückmeldung.

Ich gehe mit Giovanni außerdem zu Sozialberatungsstellen wie dem Frostschutzengel. Der uns dort zugewiesene Sozialarbeiter ist sehr hilfsbereit und informiert uns unter Vorbehalt, da er auf osteuropäische Länder spezialisiert ist, dass es zwischen Italien und Deutschland ein spezielles Fürsorgeabkommen gebe. Hoffnung kommt auf, wir gehen zur Feier des Tages in eine Pizzeria essen, die er aus besseren Berlin-Tagen noch in Erinnerung hat. Giovanni erzählt mir, wie lange der letzte Restaurantbesuch für ihn zurückliege.

Doch schon am nächsten Tag herrscht wieder völlige Ernüchterung: Wir erfahren, dass das Fürsorgeabkommen der EU inzwischen stark eingeschränkt wurde. Für Giovanni besteht keinerlei Möglichkeit, Sozialleistungen in Deutschland zu beziehen.

Anfang Oktober wird Giovanni schließlich aus der Psychiatrie entlassen. Er erhält Medikamente für drei Tage, gegen seine Depressionen und den hohen Bluthochdruck, der auf längere Sicht lebensbedrohlich sei.

Giovanni im Oktober 2018 vor der Amerika-­Gedenk-­Bibliothek, einer seiner Zufluchtsorte

Meine Wohnsituation lässt es nicht zu, dass Giovanni bei mir unterkommen kann. Er bittet mich, ihn zum Alexanderplatz zu fahren, um dort weitere Flyer verteilen zu können. Da die Nächte immer kälter werden, schläft Giovanni nun doch in den Notübernachtungen der Obdachlosenhilfe.

V. Ernüchterung zu Weihnachten

Als ich Anfang Dezember für längere Zeit Berlin verlasse, beschleicht mich ein Gefühl von Traurigkeit, der Gedanke nicht genug für Giovanni getan zu haben. Wir schreiben uns fast täglich per Mail, Giovanni nutzt weiterhin das Internet in den öffentlichen Bibliotheken. Vor Weihnachten habe ich Giovanni ein Paket mit etwas Geld, Medikamenten und Lebkuchen geschickt. Da er über keine Postadresse verfügt, wird es ihn über die ehrenamtlichen Mitarbeiter vom Kälteschutz Mehringhof, einer Notunterkunft in der Gneisenaustraße in Kreuzberg, erreichen.

An den Feiertagen besucht Giovanni die von vielen Ehrenamtlichen liebevoll gestalteten Veranstaltungen für obdachlose Menschen. Die Silvesternacht will er in einer Notunterkunft verbringen, da er sich vor den vielen Betrunkenen in der U-Bahn fürchte.

Giovanni hofft für das neue Jahr, dass sich doch noch eine Möglichkeit auftut, um nicht mehr länger auf der Straße leben zu müssen. Sein bescheidener Traum für 2020: „Ich brauche nicht viel, nur ein kleines Zimmer, damit ich einen Ausweis beantragen und Arbeit finden kann.“