Transplantationen in den neuen 20ern: Die Fremde in mir

Unsere Autorin sieht, weil eine andere nicht mehr sehen kann. Von einer neuen Hornhaut und einer Gesellschaft, die blind für die Forschung ist.

Ein sehr rotes Transplantat

Das Transplantat einer Augenhornhaut in einem Labor Foto: Jens Büttner/dpa/picture alliance

Beim Versuch zu beschreiben, wie ich sehe, taucht eine zweite Person auf. Denn sie hat mir etwas gegeben, das mich schützt.

Ich sehe was, was du nicht siehst“, sage ich zu ihr, aber ich spreche ins Leere, denn ich kenne sie nicht.

„Ich sehe was, was sie nicht sieht“, versuche ich es noch mal. Nur, das stimmt auch nicht. Denn ob sie sehen kann oder nicht, ist bei einer Toten eine Frage des Glaubens.

„Ich sehe, weil sie nicht mehr sieht.“ Ja, so könnte es gehen.

Ich will über mein Sehen schreiben: Dass ich sehe, weil sie gesehen hat. Dass Sehen und Nichtsehen jetzt eins ist. Dass ich durch ihre Augen sehe. Genau genommen durch ihr linkes. Genau genommen nur durch eine dünne Membran ihres linken Auges, durch die hinterste Schicht ihrer Hornhaut, die mir transplantiert wurde, weil meine sich aufgelöst hatte und alles überblendet war. Seither bin ich einer Person nahe. Etwas von ihr lebt in mir. Am Ende ihres Blickes ist mein Blick.

„Ich bin ihr dankbar“

Und ich will darüber schreiben, von welcher Last wir, deren Augen krank sind, befreit wären, wenn es, dank Fortschritt, dank Aufbruch, die künstliche Hornhaut gäbe: von der Last der anderen nämlich.

Insulin und Penicillin

Nach dem Ersten Weltkrieg kommt es in der Medizin zu entscheidenden Neuerungen. 1921 isolieren Frederick Banting, John James Rickard Macleod und Charles Best das Insulin, ein Meilenstein bei der Behandlung von Diabetes. Am 28. September 1928 entdeckt der schottische Mediziner Alexander Fleming im Labor zufällig, dass Schimmelpilze der Gattung Penicillium eine wachstumshemmende Wirkung auf Bakterien haben. Daraus entsteht das Antibiotikum Penicillin.

Frauengesundheit

Die Knaus-Ogino-Verhütungsmethode von 1928, auch Kalendermethode genannt, schützt Frauen zwar nicht völlig zuverlässig vor Schwangerschaften, unterstützt sie aber im Recht auf Selbstbestimmung.

Ich schreibe, dass ich nichts weiß von der Fremden in mir. Weshalb dann nenne ich sie sie? Ich tue es, weil mir etwas doch bekannt ist: dass es eine Frau ist, deren Hornhaut mir eingepflanzt wurde. Ein-ge-pflanzt? Was für ein schöner Gedanke.

Gerade aus der Narkose aufwachend, frage ich den Arzt, durch wessen Auge ich nun sehe. Er wisse nur, es sei eine Frau. Das beruhigt mich, denn ich gebe mich lieber einer Frau hin, ich schmelze durch sie, wo verschmelzen nicht möglich ist. „Ich bin ihr dankbar“, sage ich, als noch alles neblig ist, und der Arzt sagt, dass er das schön finde, denn die meisten kümmere es wenig, woher das Lebendige käme, die meisten dächten, „wir haben die Hornhäute im Schrank“.

Hornhäute sind wertvolle Ersatzteile. Kein Gewebe wird so oft transplantiert. 8.000 Mal im Jahr in Deutschland. Mehr würden gebraucht; aber es gibt nicht genug Leute, die bereit sind zu spenden.

Hornhäute kommen in der Regel als Paar. Sie sind zerlegbar. Jede Hornhaut besteht aus fünf Schichten. Weil nicht durchblutet, halten sie länger. Weil nicht durchblutet, kann das Gewebe den Toten bis zu drei Tagen nach ihrem Ableben entnommen werden. Bei Organspenden hingegen werden diese entnommen, wenn der Mensch hirntot ist. Weil nicht durchblutet, können auch alte Leute Hornhäute spenden. Oder Krebskranke. Hatte die andere in mir Krebs? Denn das sagte der Arzt noch, dass sie jünger gewesen sei als ich. Ihr junges Auge gebrochen.

Lange hat es gedauert, bis mein Auge bereit war für sie. Alles war überblendet. Als wäre ich mit ihr ins Nichtsehende selbst gegangen. Lange hat es gedauert, bis ihre Hornhautmembran mit meiner verwachsen ist. Als wehre sich mein Körper mit dem, was ihr Eigenes war und nun mein Fremdes ist, eins zu werden. Jetzt, ein Jahr später, gibt es immer noch Tage, an denen sich das Auge anfühlt, als gehöre es nicht zu mir. So mahnt sie mich, dass ich sehe, was sie nicht sieht. So mahnt sie mich, sie nicht zu vergessen. So erinnert sie mich daran, dass ihr Sehen ein anderes war und dass auch sie keine Wahl hatte, mit wem sie verschmolzen wird.

Es ist die Sehnsucht zu erkennen: Mein eigenes Sehen ist blinder Fleck. Eine andere Sicht ist eine andere Wahrheit. Ihre? Nein, ihre nicht. Ich darf nicht wissen, wen sie geliebt hat. Ich darf nicht wissen, welche Sprache sie sprach. Ich darf nicht wissen, wie ihr Gott hieß. Ich darf nicht wissen, wo ihr Grab ist. Ich darf nicht wissen, ob ich sie geliebt hätte, obwohl sie mit mir nun verschmolzen ist. Würde man mich klonen, versehentlich aber ihre Zelle aus meinem Auge nehmen, es wäre ihr genetischer Zwilling nicht meiner.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Es ist irrational. Die andere in mir ist zu meinem Unbewussten geworden. Sie ist mein „andalusischer Hund“. Der taucht in dem Film von Buñuel und Dalí aus den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf. Alles ist Traum. Träumend sehe ich, was die andere nicht sah. Es ist das linke Auge, durch das das Fremde in mich gekommen ist. Wie auch das Rasiermesser dem andalusischen Hund (oder ist es eine Frau?) im Film durch das linke Auge fährt.

Im Film, aber auch in der Sehnsucht der Menschen in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, löst sich der Mensch aus den Zwängen sozialer Korsette, löst sich aus allen Zusammenhängen. Der Mensch, nach Individualität strebend, der Mensch, dem Technik zur Freiheit helfen soll, hat nun aber, dank des Siegeszugs der Psychoanalyse, das Unbewusste als Gefährten. Das wird er nicht mehr los. Wo Realität ist, kann Traum, kann Surrealität sein.

Aber ach, die Technik soll es auch in den neuen 20er Jahren, die nun beginnen, richten. Hornhäute, künstlich gezüchtet, aus Hundezellen, aus Schweineaugen, aus Fischschuppen, aus Knorpel, aus Stammzellen, aus Kunststoff, aus Was-weiß-ich sollen die Spenden von Verstorbenen ersetzen. Bloß nicht das fremde Ich in sich weiter tragen, bloß nicht gebunden sein an andere. Denn das widerstrebt der seit hundert Jahren ersehnten Individualität.

„Wozu dann noch Wissenschaft“

Zum Ton, den ich bisher anschlage, passt nicht, was nun kommt. Denn aus der Hornhaut, gezüchtet aus sich selbst, wird noch lange nichts, sagt der Biologe Olaf Hellwinkel. Er stellt, was die Fremde und mich verbindet, vom Kopf auf die Füße. Ihm geht es nicht ums Sie und Ich, ihm geht es ums Wir. Um den gesellschaftlichen Kontext hierzulande – der ist erfolgsorientiert und sucht nicht nach Liebe.

Es ist irrational. Die andere in mir ist zu meinem Unbewussten geworden

Hellwinkel leitet die Lions Hornhautbank im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Schon diese Bezeichnung deutet auf kalte Ökonomie: Der Lions-Club sponsert, weil die Einrichtung sonst unterfinanziert wäre. Und die Hornhäute, die hier gelagert werden, sind wie Schätze einer Bank.

Hellwinkel läuft unruhig in seinem Büro hin und her. Er kann, er will nicht auf dem Stuhl sitzen, zu viel liege im Argen. Klimawandel, die neuen Nazis, die Zukunft der EU treiben ihn um, und vor allem die Abwertung der Wissenschaft. Momentan sehe er nur Stillstand und nichts von einem 20er-Jahre-Aufbruch. „Gut validierte wissenschaftliche Daten werden politisch ignoriert. Der Wert wissenschaftlicher Erkenntnis wird von der Politik in Frage gestellt. Diese Daten dürfen nicht stimmen, ist die Haltung“, sagt er. Fatal sei das. „Wozu dann noch Wissenschaft?“

Ein Land, das auf sein intellektuelles Kapital angewiesen sei, finanziert die Forschenden nicht vernünftig, lasse viele in prekären Verhältnissen schmoren. Auch er müsse Drittmittel einwerben, um die Forschung an den Hornhäuten weiterzutreiben. Um irgendwann nicht mehr auf Gewebespenden angewiesen zu sein.

In der Hornhautbank, der Hellwinkel vorsteht, werden die eingehenden Hornhäute untersucht, präpariert, zerlegt, mikrobiologisch sterilisiert, dokumentiert und denen zugeführt, die eine Transplantation brauchen. Als Wissenschaftler aber wolle er forschen und lehren, und ein Universitätsklinikum müsse das leisten. Allein, seine Arbeitszeit werde von bürokratischen Anforderungen fast aufgefressen.

Die Wissenschaft werde nicht adäquat unterstützt, damit bliebe man noch lange auf Gewebespenden angewiesen. Gleichzeitig werde die Bereitschaft zur Spende nicht gefördert. Es gebe keine zentrale Erfassung möglicher Gewebespender. Er müsse als Leiter der Hornhautbank gemeinsam mit Rechtsmedizinern Netzwerke zu anderen Kliniken aufbauen, um Gewebespenden zu erhalten. „Dieser Kreislauf ist absurd“, sagt er, steht auf, geht die paar Schritte bis zur Tür und wieder zurück.

Überraschend, wie klein die Hornhaut ist

„Zu forschen gibt es genug“, sagt er. Zu vieles wisse man noch nicht, wenn es um die Hornhautmorphologie gehe. „In der Wissenschaft steht man immer am Anfang.“ Unklar etwa sei, wie die Krümmung in die Hornhaut komme. Das müsse er beim Versuch, Hornhäute aus Hornhautzellen zu züchten, aber wissen, damit seine Vision funktioniert: Die nämlich, Zellen von Hornhautresten, die bei einer Transplantation nicht gebraucht werden, zur Zellteilung anzuregen und in einen neuen künstlichen Verbund zu bringen. Auch würde er gerne die innere Schicht der Hornhaut, die oft transplantiert wird, wie bei mir, so verändern, dass sie sich schneller mit der äußeren Schicht verbindet.

Eingepackt in sterile Kleidung zeigt er den Raum, in dem die gespendeten Hornhäute in einer pinkfarbenen Flüssigkeit im Brutschrank lagern. In ihm wird das Körperinnere simuliert bei 37 Grad. Es überrascht mich, wie klein so eine Hornhaut ist, in meiner Vorstellung soll sie riesig sein, so groß, als umhülle sie mich.

Und, was werden die neuen 20er Jahre bringen? Hellwinkel glaubt, dass man in zehn Jahren mehr darüber wissen werde, wie Hornhaut entsteht. Auch dass man weiterkomme bei der Entwicklung künstlicher Hornhäute aus Stammzellen, aus Spenderzellen, aus Kollagen, aus künstlichem, biotechnisch hergestelltem Protein. Glas möchte er zudem nicht ausschließen.

Auch nicht, wenngleich das weit in der Zukunft liege, dass lebende Zellen aus toten Zellen entstehen. Frankenstein?, frage ich. „Ach, ein uralter Mythos“, sagt er. Einer der ersten, die verfilmt wurden. 1931 kam er in die Kinos. In jenem Jahrzehnt, in dem sich alles ins Gegenteil verkehrte. Die Menschen geblendet. Weil sie geblendet sein wollten.

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