Ein neuer Garten am Rande der Altstadt

Wie viele andere Kleinstädte steckt Bad Gandersheim in Niedersachsen in einer Abwärtsspirale. Ein Projekt aus brasilianischen Favelas brachte dem Ort neuen Schwung: Bei „Oasenspielen“ packen Bürger*innen gemeinsam an

Arbeit am Gemeinschafsgarten: Teilnehmerinnen des Oasenspiels in Bad Gandersheim. Foto: Robert B. Fishman

aus Bad Gandersheim Robert B. Fishman

Vor dem Rathaus haben die Oasenspieler*innen ihr Wohnzimmer aufgebaut: zwei alte Sofas, Tisch, Bücherschrank, eine Schaukel-Tigerente, leuchtend rote Sitzkissen auf einem Teppich, Musikinstrumente, Stühle, an denen eine junge Frau kostenlose Nackenmassagen anbietet. Pas­san­t*in­nen bleiben zögernd stehen, schauen verwundert. Nur wenige trauen sich näher ran. An der Rathaustreppe flattern die Wünsche und Träume der Gandersheimer*innen im Wind. „Ein Basketballplatz, ein Unverpacktladen, eine Theatergruppe“, liest der Teilnehmer und pensioniere Pädagoge Rolf Ninke von den handgeschriebenen Zetteln, die an einer Wäscheleine baumeln, „ein Zebrastreifen, mehr Spielplätze, ein Trinkwasserbrunnen, mehr Angebote für junge Leute und für Frauen.“

Die Organisator*in­nen des Oa­sen­spiels haben die Ein­woh­ne­r*in­nen von Bad Gandersheim, einer Kleinstadt zwischen Hannover und Göttingen, gerufen. Mehr als 100 Menschen – Alte und Junge, Einheimische und viele Geflüchtete – sind gekommen. Gemeinsam haben sie ihre Wünsche für eine bessere Stadt aufgeschrieben. Allen voran: ein Gemeinschaftsgarten für alle, in dem sie Gemüse anbauen, grillen, die Sommerabende genießen und gemeinsam feiern können.

„Ich war erst skeptisch“, erzählt die Teilnehmerin Claudia Rische, die in Berlin und Bad Gandersheim als freie PR-Beraterin arbeitet. „Hier haben doch alle eigene Gärten und damit schon genug Arbeit.“

Doch an einem Wochenende Ende Mai packen sie alle mit an. An die 50 Freiwillige verwandeln in nicht einmal drei Tagen ein Stück Brachland in eine Oase: Gartenhäuschen, aus Abfallholz selbst gebaute Sitz- und Liegebänke, ein Picknicktisch, Feuerstelle, Beete, Kartoffel­acker und mehr.

Stadtentwickler und Architekten in Brasilien haben das Konzept des Oasenspiels für die dortigen Armenviertel am Rande der Großstädte entwickelt. Viele Ideen holten sie sich dazu bei den indigenen Gemeinschaften im Amazonasgebiet. Diese ergänzten sie mit modernen Methoden der Bürgerbeteiligung wie dem „World Café“ und „Open Space“. Das Grundprinzip: Gemeinsam sollen die Teil­neh­me­r*in­nen in wenigen Tagen im öffentlichen Raum In­fra­struktur und Angebote für die Allgemeinheit schaffen.

„Normalerweise warten wir darauf, dass zum Beispiel Regierungen oder Stadtverwaltungen etwas tun, um unser Leben zu verbessern“, sagt Oasenspiel-­Mit­entwickler Rodrigo Rubido von der Elos-Stiftung aus Brasiliens größter Stadt São Paulo. „Dabei haben Gemeinschaften so viel eigenes Potenzial. Wenn wir uns zusammentun, bauen wir neue Beziehungen auf, und das ist eigentlich das Wichtigste beim Oasenspiel. So entsteht ein Gemeinschaftsgeist, und die Menschen stärken sich gegenseitig.“

In den Amazonasdörfern und den Favelas Brasiliens müssen die Bewohner*innen mit wenigen Ressourcen auskommen. Die lokalen Verwaltungen haben kein Geld und oft auch wenig Interesse, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Deshalb müssen sie sich selbst helfen.

1. Die Initiator*innen stellen das Konzept vor und laden ihre Nachbar*innen zum Ideensammeln ein. Dabei geht es vor allem darum, die Potenziale vor Ort zu erkennen und zu vernetzen.

2. Die Beteiligten tragen zusammen, was es an Ressourcen, Talenten, Projekten und Initiativen schon in der Nachbarschaft gibt: Wer kann was, und wobei kann wer helfen?

3. Verbundenheit schaffen: Die Interessierten lernen sich kennen und schätzen, tauschen sich aus und schaffen eine Gemeinschaft.

4. Groß träumen für ein gemeinsames Anliegen, Ideen vernetzen und verschiedene Sichtweisen zusammenbringen.

5. Traum- und Planwerkstatt: Alle tragen ihre Wünsche, Träume und Ideen in einem großen Brainstorming zusammen.

6. Das Wunder: Bei der Umsetzung an nur zwei aufeinander folgenden Wochenenden erleben die Beteiligten, wie viel sie schnell zusammen erreichen können, wenn alle mit anpacken. Von den ersten Ideen bis zum Ergebnis dauert es nur drei Wochen.

7. Das Ergebnis feiern: Auf einem gemeinsamen Fest würdigen und feiern die Beteiligten das Erreichte und schätzen jeden Beitrag.

8. Re-Evolution: Wie geht es weiter?: die nächsten, größeren Träume sammeln und verwirklichen.

Auch die Kleinstadt Bad Gan­ders­heim kann den Oasen­spie­le­r*innen außer warmen Worten wenig bieten. Die Stadtkasse ist leer. Vor zehn Jahren stand das 10.000-Einwohner-Kurstädtchen mit 32 Millionen Euro Kassenkrediten in den Miesen. Das Rathaus musste ein Drittel der Stellen streichen und, so Bürgermeisterin Franziska Schwarz, „auf alle freiwilligen Leistungen verzichten“: Kein Geld fürs Schwimmbad, für Sportvereine und für die Kultur, die nun auf Sponsoren angewiesen ist. Die Schulden seien inzwischen abgebaut. Dennoch regiert der Rotstift weiter. Für jeden Haushalt braucht die Stadt die Genehmigung der Aufsichtsbehörde.

Immer mehr kleine Geschäfte in der Innenstadt geben auf. Die Leute kaufen im Internet oder in den großen Märkten am Stadtrand. Ein Citymanager soll nun zwischen den Eigen­tü­me­r*innen leerstehender Gebäude und möglichen Inte­res­sen­t*innen vermitteln. Mit einem „Zukunftsvertrag“, der Bad Gandersheim weiter zum Sparen verpflichtet, hat sich die Stadt zumindest den Zugang zu Geld aus dem Städtebauförderungsprogramm und dem Programm „Zukunft Stadtgrün“ gesichert.

Das Oasenspiel habe – zumindest für einige Tage – eine „fröhliche, lebendige und kreative Stimmung“ in die Stadt gebracht, sagt die Bürgermeisterin Monate später im Rückblick. Geblieben sei vor allem „die Erinnerung an ein tolles Projekt“.

Es bringt Nachbar*innen zusammen. Mit dem vorhandenen Material und Fähigkeiten bauen sie schnell und ohne Budget mit der Kraft vieler Hände zum Beispiel Schulen, Gemeinde­zen­tren, Brunnen und anderes mehr. Über die praktische Arbeit hinaus entsteht so Gemeinschaftsgeist, Zuversicht und auch ein Empowerment von Menschen, die sonst wenig Wirksamkeit ihres Tuns erleben.

In Bad Gandersheim sind die Oasenspieler*innen nach dem Beschluss, einen Gemeinschaftsgarten anzulegen, losgezogen, um das nötige Material und Know-how zu sammeln. „Wir haben die Leute in der Stadt angesprochen, an Haustüren geklingelt und gefragt, wer etwas zum Gemeinschaftsgarten beisteuern möchte“, erzählt eine Teilnehmerin. Viele hätten Sachen gespendet oder verliehen: Bauholz, Werkzeug, alte Gartenmöbel, einen Vogel aus Metall, der jetzt frisch restauriert den Garten ziert.

Der Rotstift regiert, die Stadtkasse ist leer

Ein Landschaftsbauer spendete Erde und stellte seinen Lieferwagen zur Verfügung, eine Pizzeria brachte ein komplettes Catering zum werdenden Gemeinschaftsgarten. Das verwilderte Grundstück am Rande der Altstadt hatte ein Anwohner der Initiative überlassen.

Weltweit haben Oasenspiele bisher in rund 300 Dörfern und Stadtvierteln stattgefunden – unter anderem in Südamerika, in verschiedenen afrikanischen Ländern, in Indien, Spanien, Italien, den Niederlanden, in Berlin, Leipzig, Hannover, der Dortmunder Nordstadt und dem Gemeinschaftsdorf Heckenbeck, das zu Bad Gandersheim gehört. Ausprobiert wurde es erstmals vor rund 20 Jahren in Santos, Brasilien. Die Methode ist als Open-Source-Angebot frei zugänglich. Daher weiß niemand genau, wer sie wie, wo und wann nutzt. 2013 hat die Stiftung der brasilianischen Nationalbank Banco do Brasil das Oasenspiel als „wirksame Technologie für soziale Transformationsprozesse“ zertifiziert.

Bad Gandersheim hat sich durch das Oasenspiel verändert. Die aus dem Spiel entstandene Stadt-Campus-Gruppe von etwa 25 Leuten sucht weiter nach geeigneten Räumen, um ihren nächsten Traum zu verwirklichen: eine Kulturkneipe für gemütliche Abende, Konzerte oder Kleinkunst. Rolf Ninke, der „Traumführer“ vom Rathausplatz, ist wie viele andere dabei­geblieben. Er „kennt jetzt viel mehr Leute in der Stadt“ und erlebt, wie sich die Menschen im Ort „mehr vernetzen“.

PR-Beraterin Claudia Rische erlebt – trotz aller Mühen – „Aufbruchstimmung“ im Städtchen – auch weil die Landesgartenschau 2022 kommt. Auch sie habe durch das Oasenspiel viele neue Leute kennen gelernt und in Bad Gandersheim ein stärkeres Zuhausegefühl entwickelt. Sie freut sich auf die nächste Gartensaison.