taz-adventskalender: wortwörtlich berlin
: WG mit Revolutionsplanung

Klaus Kordon: „Hundert Jahre und ein Sommer“. 392 Seiten, Gulliver von Beltz & Gelberg, 8,95 Euro

Wer etwas über Berlin lesen will, hat viel Auswahl. Die schönsten Schriftstücke stellt die taz bis Weihnachten täglich vor. Und es geht nicht nur um Bücher!

In einer Phase meines Lebens, die ich hauptsächlich lesend verbracht habe, zumindest die Zeit, die übrig blieb, wenn man all die anderen lästigen Aktivitäten abzog, standen die Jugendbücher von Klaus Kordon ganz oben auf meiner Liste. „Seine Akteure sind meist Arbeiter oder von der Gesellschaft marginalisierte Gruppen“, steht im Wikipedia-Eintrag über das Werk des in Berlin geborenen und aufgewachsenen Schriftstellers, das auf meine Politisierung vermutlich einen nicht unwesentlichen Einfluss hatte, leicht sozialromantischer Einschlag inklusive.

„Hundert Jahre und ein Sommer“ las ich mit dreizehn, also schon gegen Ende dieser Phase. In dem 1999 erschienenen Roman besucht die 21-jährige Eva Seemann ihren Großvater Robert in Berlin. In der DDR war Robert ein erfolgreicher Schriftsteller, mit Evas Vater ist er auch deswegen zerstritten, und so wird in nächtlichen Balkongesprächen über das Verhältnis zu diesem untergegangenen Staat gestritten. Da das noch nicht genug wäre an Aufarbeitung der deutschen Geschichte, wir befinden uns schließlich in einem Roman von Klaus Kordon, ist das Buch außerdem als Brief verfasst, den Eva an ihre Ururgroßmutter schreibt, das Minchen, das um 1900 als Dienstmädchen nach Berlin kommt.

Anhand der Geschichte der Familie Seemann wird also die des 20. Jahrhunderts in Deutschland und insbesondere Berlin erzählt. Ein ehrenvolles Unterfangen.

Ich erinnere mich aber, das Buch damals in unterschiedlichen Geschwindigkeiten gelesen zu haben: Ging es um lange Zurückliegendes, las ich oberflächlicher, ungeduldiger. Das hatte ich ja schließlich alles schon in den anderen Büchern von Kordon gelernt. Und immerhin war ich jetzt schon dreizehn, da interessierte mich der andere Teil des Buchs viel mehr: Der, der im Jetzt spielte, also Ende der neunziger Jahre in dem Haus in der Torstraße, das Evas Großvater bewohnt und sie besucht.

Da gibt es nämlich, neben der versifften Wohnung von Evas Großvater, die sie erst mal von oben bis unten putzt, was ich damals überhaupt nicht und heute sehr gut nachvollziehen kann, auch eine WG. Und in dieser WG wird die Revolution geplant, denn das Buch ist auch eine frühe Gentrifizierungsgeschichte: Das Haus in der Torstraße soll abgerissen werden, die Bewohner organisieren sich dagegen, Punks und Studenten, Obdachlose und Evas Großtante gemeinsam. Außerdem gibt es da noch einen russischen Maler, in den sich Eva verliebt.

Ungefähr genauso sollte mein Leben später sein, beschloss ich damals. Damit stand auch der Berufswunsch, Eva ist nämlich angehende Journalistin.

Zum Erwachsenwerden gehört dann natürlich festzustellen, dass die Dinge meist etwas komplexer sind als in einem Jugendbuch. Vielleicht käme mir bei heutiger, erneuter Lektüre manches sogar klischeehaft vor. Aber selbst wenn, mit dreizehn kann man schlimmere Klischees erlernen als das, dass die Armen die Guten und die Reichen die Bösen sind. Insofern: Empfehlung, übrigens auch für alle, die um diese Jahreszeit den Sommer in Berlin vermissen.

Malene Gürgen

Berlin-Faktor: Heute würde ein Altbau in der Torstraße natürlich längst nicht mehr abgerissen, sondern luxus­saniert, ansonsten auch nach zwanzig Jahren noch aktuell.

Taugt als Weihnachtsgeschenk für: Alle 13-Jährigen in Ihrer Umgebung.

Kunden, die das kauften, kauften auch: Natürlich die anderen Kordon-Romane. „Mit dem Rücken zur Wand“ und „1848“ mochte ich am liebsten.