Erkundung eines verleugneten Gefühls: Einsam wacht

Sich einsam fühlen kann auch, wer mitten unter Menschen ist. Umgekehrt sind nicht alle, die allein sind, deswegen schon einsam.

Ein Mensch geht allein einen Hügel hinauf

Die norddeutsche Landschaft, hier der Kronsberg bei Hannover, macht Alleinsein nicht leichter Foto: dpa

BREMEN taz | An Weihnachten kommen die Menschen traditionell zusammen. Sie verbringen die Festtage mit Familie oder Freund*innen. Es ist oft heiter, laut und trubelig – aber die eine oder andere verspürt dennoch eine Leere und stellt fest: Ich bin einsam, trotz der ganzen Menschen um mich herum. Was bleibt, ist ein Gefühl von fehlender Zugehörigkeit. Aber warum sind wir manchmal einsam, auch wenn wir nicht allein sind? Und was ist Einsamkeit überhaupt?

Während Alleinsein ein objektiver Zustand ist, ist Einsamkeit ein subjektives Gefühl, meint Susanne Bücker von der Ruhr-Universität Bochum. „Es beschreibt, dass mir Sozialkontakte nicht ausreichen, sowohl in der Tiefe als auch in ihrer schieren Anzahl“, sagt die Psychologin, die zur Einsamkeit forscht. Die Zustände hingen oft zusammen, seien aber nicht das Gleiche.

In der Forschung werden verschiedene Facetten der Einsamkeit unterschieden: Wer unter emotionaler Einsamkeit leidet, dem fehlt ein enger Partner oder bester Freund. „So kann ich mich auch fühlen, wenn ich viele Freundschaftsbeziehungen habe – weil die diese Lücke nicht füllen können“, sagt Brückner. Soziale Einsamkeit beschreibe dagegen das Fehlen eines breiteren Freundschaftsnetzwerks. Diese Form der Einsamkeit sei auch mit einem engen Partner an seiner Seite erlebbar.

„Andererseits bedeutet Alleinsein nicht automatisch, sich auch einsam zu fühlen“, schreibt der Einsamkeitsforscher John T. Cacioppo in seinem 2008 verfassten Buch „Loneliness“. Der US-Psychologe lässt sich über das Vergnügen aus, auch mal für sich zu sein: „Man denke nur an einen Biologen, der im Regenwald forscht, einen Pianisten, der sich zum Üben in Klausur begeben hat, oder einen Radrennfahrer, der im Gebirge trainiert.“

Die Rolle der Sozialen Medien ist nicht klar

Wer den Gedanken an solche Situationen kaum erträgt, kann anscheinend gar nicht mehr allein sein – aus Angst, die Einsamkeit wahrhaftig zu spüren. Das ist, je nach Perspektive zum Glück oder leider, heute auch gar nicht mehr oft nötig. Zahlreiche Kontakte sind leichter zugänglich als je zuvor, dank sozialer Netzwerke. Ist diese Entwicklung hin zu einer virtuellen Welt vielleicht sogar schuld an dem Nicht-allein-und-trotzdem-einsam-Phänomen?

„Es gibt bisher keine starken Belege dafür, dass sich soziale Medien auf Einsamkeitsgefühle auswirken“, sagt Bücker. „Was wir aber sehen, sind die großen Unterschiede, wie einsame und nicht einsame Menschen soziale Medien verwenden.“ Wer schon einsam ist, tendiere dazu, die Sozialkontakte weitgehend in die Online-Welt zu verlagern. Wer nicht einsam ist, nutze die Medien eher dazu, alte Kontakte zu erhalten oder neue zu knüpfen.

Menschen, die gern alleine sind, können Weihnachten wahrscheinlich gut im eigenen Wohnzimmer verbringen. Aber es gibt auch solche, die allein und einsam sind, weil sie keine Wahl haben. Weil sie Schwierigkeiten haben, Bindungen herzustellen, weil sie krank und deswegen isoliert sind, oder weil sie keine Familie mehr haben.

Diese Gefühle kennen alle, doch wer wirklich einsam ist, spürt das an Weihnachten besonders. Das mag an der Dunkelheit und Kälte liegen, daran, dass alle anderen sowieso keine Zeit haben, oder dass die Tradition uns gelehrt hat, sich an Weihnachten ja bloß mit Menschen zu umgeben und glücklich zu sein.

Ob sich Menschen einsam fühlen, hängt von verschiedenen Faktoren ab, sagt Bücker. Äußere Faktoren seien Umbrüche im Leben, die das soziale Netzwerk destabilisieren. Aber auch eingeschränkte Mobilität trägt zur Einsamkeit bei. Und es gibt innere Faktoren, die Einsamkeit begünstigen: „Wer schüchtern, sorgenvoll und nicht so emotional stabil ist, hat ein größeres Risiko, einsam zu werden“, sagt Bücker. Einsamkeit und Depression seien verknüpft – in beide Richtungen. Weitere Risikofaktoren seien Armut, Migrationshintergrund oder geringe Bildung – alles, was Teilhabe erschwere.

Bücker nennt „zwei Risikogruppen“: junge Erwachsene zwischen 20 und 30 und Menschen ab 80 Jahren. Über alle Altersgruppen hinweg sind in Deutschland zwischen fünf und 15 Prozent chronisch einsam. Wo chronische Einsamkeit beginnt, sei indes gar nicht so leicht definierbar, meint die Psychologin. „Es ist ja keine Krankheit und in der Forschung werden hier unterschiedliche Maßstäbe gesetzt.“

Einsamkeit wird tabuisiert

Wenn Bücker bemerkt, dass jemand einsam ist, schlägt sie demjenigen vor, sein Adressbuch durchzugehen und zu schauen, von welchen fünf Kontakten er schon länger nichts mehr gehört hat. Bestehende Kontakte zu aktivieren, sei oft leichter, als neue zu knüpfen. Außerdem rät sie dazu, sich im Alltag bewusst Zeit für Austausch zu nehmen. Sozialkontakte seien „wichtig für die physische und psychische Gesundheit“.

Auch die Wahrnehmung von Einsamkeit müsse sich ändern. In Fragebögen werde das Wort meist vermieden – weil es noch recht stark tabuisiert sei. „Wenn wir als Gesellschaft offener damit umgehen würden, wäre das sicherlich schon mal hilfreich für Betroffene, weil sie dann leichter aussprechen könnten, wenn sie sich einsam fühlen“, meint Bücker.

Den Norddeutschen ist die Einsamkeit schon allein wegen der Landschaft vertraut. Die nebelverhangenen Weiten und der graue, triste Himmel sind vielleicht auch solche externen Faktoren, die dazu betragen, dass sich die Einsamkeit in uns ausbreiten kann.

Andererseits haben die Nordlichter aber auch gelernt, damit umzugehen. Das könnte auch ein Vorteil sein: Vielleicht halten sie Einsamkeit einfach besser aus.

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