Kredit­unwürdig aber stabil

Geldmäßig war es bei der taz oft knapp. Nicht mal ein Konto wollten die Banken uns einrichten lassen. Wie man einen Laden trotzdem am Laufen hält, erzählt der Steuerberater der taz

„Der Einzige in diesem Raum, der logisch denken kann, bin ich“

Karl-Heinz Ruch

Von Bernhard Brugger

Westberlin, August 1980: „Liquiditätsübersicht. Wie sich inzwischen rumgesprochen hat, ist in der taz-Kasse mal wieder nichts drin und es kommt auch vor Anfang Oktober nicht mehr viel rein“, so Redakteur Wolfgang Zügel, genannt Zaggi, der sich während des Urlaubs von Karl Heinz Ruch (Kalle) der taz-Zahlen annehmen musste.

Das ging ja gleich richtig gut los für mich. Im August 1980 sollte ich bei der taz einen überforderten Kollegen ablösen und die Buchführung der einzelnen taz-Firmen und deren Verbindung untereinander auf die Reihe bringen.

Westberlin 1980, das war die Zeit selbstverwalteter Betriebe: Vollkornbäckereien, Druckereien und Theater gründeten sich fast wöchentlich. Das Ufa-Gelände war besetzt und der gekaufte Mehringhof prall gefüllt mit Kollektiven. Und im Berliner Wedding hielt sich ein weiteres selbstverwaltetes Kollektiv, die taz, der es gegen jede professionelle Prognose seit dem 17. April 1979 täglich gelang, eine linke radikale Zeitung mit dem selbstbewussten Titel „die tageszeitung“ an die Leser zu bringen.

Dass die Zentrale des aus verschiedenen regionalen Initiativgruppen entstandenen Projekts „taz“ nicht wie ursprünglich geplant in Frankfurt gelandet war, sondern in der abgelegenen Mauerstadt, war steuerlichen Gründen geschuldet – der Steuerberater Gert Behrens, mein damaliger Chef, hatte zum Ausschöpfen der Berlinsubventionen eine optimale Firmenkonstruktion entwickelt.

Der Haken war, dass es in der taz nur ganz wenige gab, die diese Konstruktion verstanden und fachgerecht mit Leben füllen konnten oder dies lernen wollten. Der oben genannte Wolfgang Zügel aus der Redaktion war eine der Ausnahmen – auch Dieter Metk (EDV), Gudrun Kromrey (Vertrieb) und Karl-Heinz Ruch (Verwaltung) waren in ihren Bereichen ziemlich auf sich allein gestellt.

Kein Geld in der Kasse und wenig zu erwarten – Zeit für die erste von vielen Rettungskampagnen, gezeichnet von den Vereinsvorständen Gitti Henschel und Christian Ströbele. Die taz wurde von Anfang an allein von ihren LeserInnen und Sympathisanten finanziert, über Voraus-Abos sowie stille und (Kommandit-)Beteiligungen. Banken waren nicht bereit, diesem „RAF-Terroristenblatt“ und/oder dieser völlig aussichtslosen Geschäftsidee auch nur einen Pfennig zu leihen. Selbst eine Bank zu finden, um ein Geschäftskonto eröffnen zu können, war nicht einfach. Diese „Kreditunwürdigkeit“ erwies sich im Nachhinein als segensreich, denn so wurden die Verluste in Grenzen gehalten und zu keiner Zeit konnte eine Bank unerwartet Kredite fällig stellen. Aber, noch viel wichtiger, die taz musste von Anfang an auf die Solidarität ihrer Leser und Sympathisanten setzen.

Als eine Konsequenz aus der ersten Rettungskampagne wurde das kaufmännische taz-Büro mit Heinz Bollweg, Tonio Milone und Detlef Berentzen massiv verstärkt. Die entscheidende persönliche Verantwortung trug jedoch Kalle sehr mutig alleine. Er war von Anfang an Geschäftsführer des Verlags und damit für jede Art von Insolvenz- oder Konkursverschleppung strafrechtlich ganz persönlich verantwortlich. Das hieß aber auch von Anfang an: Ohne Kalles Zustimmung ging gar nichts.

Ich habe – seit 1983 selbständiger Steuerberater der taz – bei all diesen Rettungskampagnen viel gelernt. Ganz wesentlich: Es gibt immer eine Möglichkeit, vorwärtszukommen, solange die Idee größer ist als das Ego der Beteiligten. Und solange Leute da sind, auf die man sich im Ernstfall ohne viele Worte verlassen kann. Kalle war einer davon.

Vor diesem Hintergrund hat Kalle, der an der FU Berlin Volkswirtschaft studiert hatte, in all diesen turbulenten Jahren immer erstaunlich ruhig und besonnen agiert. Er war immer da, zuverlässig, stand zu seinem Wort und scheute keine der Endlosdebatten. Weder im Plenum noch in vielen Einzelgesprächen, wenn es zum Beispiel galt, die Rücknahme der zuvor getroffenen ökonomisch unsinnigen Entscheidungen zu erläutern. Kalle war auch da, als 1987 alle gegangen waren, die zu Beginn im kaufmännischen und technischen Bereich eine Leitungs- oder Geschäftsführungsfunktion innehatten – und der Gewinn der taz wegen der hervorragenden Berichterstattung zur Reaktorkatastrophe in Tschernobyl mit 1,2 Millionen Mark unerwartet hoch ausfiel.

Ich habe mich oft gefragt, wie hält Kalle die taz aus? In seinem historischen Roman „Shogun“ über das mittelalterliche Japan lässt James Clavell Mariko, die Geliebte des angelandeten englischen Kapitäns Blackthorne, auf die Frage, wie sie das alles so gut aushalte, antworten: Jedes Kind lernt bei uns, acht Mauern um sich zu bauen und niemanden in sein Innerstes zu lassen.

Nun, die taz war nie das mittelalterliche Japan, aber bisweilen ging es heftig zu. Etwa wenn Kalle und mir eine Strafanzeige wegen Bilanzfälschung angedroht wurde. Der Anwalt der Gegenseite, ein gewisser Horst Mahler, tat dies, nachdem er in folgender Richtungsentscheidung verloren hatte: Verkauf an einen Großverlag oder Gründung der taz Genossenschaft?

Mit dem gelungen Umzug in das Gebäude in der Kochstraße 18, dem sehr preisgünstigem Erwerb und schnell realisierten Anbau sowie der aus Verlagssicht positiven Richtungsentscheidung pro Genossenschaft wurde deutlich, dass, wer auf Kalle setzt, auf den Weiterbestand der taz setzt. Zumal Kalle ab Ende der Achtzigerjahre mit Andreas Bull einen hervorragenden Partner in der Geschäftsführung hatte.

Die Anfangszeit der taz-Genossenschaft war durch das Ausscheiden zahlreicher Redakteure sehr schwierig, außerdem gab es kurzfristige Wechsel in der nun aus drei Mitgliedern bestehenden Chefredaktion. Im Verlagsbereich, der fast einstimmig für die Gründung der Genossenschaft gestimmt hatte, bildete sich nach und nach eine bis heute bestehende feste Abteilungsleiterstruktur heraus. Diese stabilisierte in den Neunzigerjahren die taz, eine Zeit, in der manch andere Zeitung ganz schnell abgewickelt wurde.

Mit Glück und Können hat Kalle diese Abteilungsleiter finden und halten können. Ihnen war und ist das Projekt taz wichtiger als ein doppelt oder dreifach höheres Gehalt in anderen Unternehmen. Es versteht sich von selbst, dass hinter jedem der im Folgenden Genannten ein gutes Team steckt: Thomas Purps, Leiter der Finanzbuchhaltung und Controller, arbeitet täglich für zwei und zeigt, wie hochwertiges, männliches Multitasking aussieht. Jörg Kohn ist keine technische Aufgabe zu schwierig und mit seinem speziellen Berliner Humor hat er noch jede Layout-Reform gemeistert. Ralf Klever hat schon in den Neunzigerjahren die taz ins Internet gebracht und garantiert bis heute die reibungslosen Abläufe im Bereich Software. Willi Vogelpohl von der Werbung gelingt es immer wieder, mit neuen Kampagnen Menschen an die taz zu führen. Susanne Hüsing und Rainer Tute im Abo, sowie Franz Schilling im Vertrieb sorgen für die täglich pünktliche Zustellung der Zeitung und deren Bezahlung, die schnellste Bearbeitung von Reklamationen inklusive. Und wer wissen möchte, wie schnelle Kantine bei wirklich gutem Essen geht, probiere es in der taz aus und erkundige sich dann bei Sigrid Renner nach dem Geheimnis …

Die taz bot von Anfang an Talenten die Möglichkeit zur Entfaltung und zum Quereinstieg. Kalles Leitungsstil ermöglichte dies auch nach Beginn der Genossenschaft. So ist ihm nach einem Beschluss, das Eigenkapital der Genossenschaft nun endlich nachhaltig zu stärken, mit Konny Gellenbeck aus der Aboabteilung ein absoluter Glücksgriff gelungen. Konny, „die taz gibt viel, sie nimmt aber auch viel“, hat zusammen mit ihrem Team Jahr für Jahr die Mitgliederzahl in unglaubliche Höhen geschraubt und arbeitet nun an der magischen Zahl von 20.000 Mitgliedern.

Da die taz in den vergangenen zehn Jahren keine Verluste mehr gemacht hat, wurde das Eigenkapital der taz-Gruppe durch die starke Erhöhung des Genossenschaftskapitals deutlich verbessert. Bei all dem ist Kalle immer bescheiden geblieben, er sitzt nach wie vor auf seinem legendären Holzstuhl, mitten in einem Großraumbüro und beansprucht noch nicht einmal eine Sekretärin. Und er hat „einfach so“ zusammen mit Andreas Bull und manchmal über seine Kräfte hinaus, den gesamten Neubau in der Friedrichstraße gestaltend begleitet.

Wer jedoch Kalle aufgrund seiner Bescheidenheit unterschätzt, erlebt manche Überraschung, denn diametral entgegengesetzt zu seinem bescheidenen Auftreten ist sein Selbstbewusstsein. Davon zeugt seine Äußerung bei einer gemeinsamen Sitzung von Chefredaktion, Vorstand und Aufsichtsrat: „Der Einzige in diesem Raum, der logisch denken kann, bin ich.“

Danke Kalle, für die gemeinsame Zeit, die vielen guten Entscheidungen und Taten, oft ohne große Worte. Ganz besonders Danke für dein Vertrauen. Dein „hat doch gut geklappt“-Grinsen wird mir sehr fehlen. Ich wünsche dir eine glückliche und gesunde Zeit und von Opa zu Opa, ganz viel Freude mit deinen Enkeln. Und wenn sie dich bald mal fragen, was denn eine Zeitung aus Papier war, hast du Ihnen bestimmt viel zu erzählen.

Bernhard Brugger, 67, ist Steuerberater und glaubt: Wenn Kalle „keine Ahnung“ sagt, dann weiß er bestens Bescheid.