„Die Leute hielten uns für verrückt“

Die taz war Kalles Lebensaufgabe, schon bevor es sie überhaupt gab. Wegbegleiter und Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele über peinliche Rettungskampagnen, einen ungeheuren Coup und die stoische Ruhe des Geschäftsführers

Kalle Ruch (r.) mit Hans-Christian Ströbele (M.) und Jony Eisenberg (l.) bei der Versammlungs am 16. November 1991, bei der die Gründung der taz-Genossenschaft beschlossen wurde Foto: Christian Schulz

Interview Plutonia Plarre

Kalle-taz: Christian, kannst du dich noch an deine erste Begegnung mit Kalle erinnern?

Christian Ströbele: Ziemlich genau. Das war vor dem Erscheinen der taz auf einem dieser Berliner Treffen für die Gründung einer linken, radikalen Tageszeitung. Wir haben uns in einem Versammlungsraum in Neukölln getroffen. Kalle und zwei andere kamen an und sagten völlig selbstverständlich, sie hätten Interesse mitzumachen, mit Zeitungsdingen aber bisher nichts zu tun gehabt. Ich glaube, keiner von uns kannte die drei.

Das war kurz nach dem Tunix-Kongress, der im Januar 1978 stattfand. Er sei misstrauisch beäugt worden, hat Kalle dazu später mal gesagt.

Das stimmt, ja, ja. Die meisten anderen hatten ja politische Gründe auf der Stirn geschrieben. Nach dem Deutschen Herbst 1977 brauchten wir ein eigenes Sprachrohr für die Linke. Einige wollten journalistisch was machen. Bei Kalle war das anders. Fortan war er dabei und diskutierte mit, auch bei den Nationalen Treffen, so hießen diese Treffen von den taz-Initiativen in der BRD damals.

Was war das Besondere an Kalle?

Er deckte etwas ganz anderes ab als alle anderen. Am Anfang war das ja ein ziemlich loser Haufen. Die Leute haben sich lange geweigert, irgendwas Organisatorisches zu regeln. Kalle wollte in ein Unternehmen – wobei an ein Unternehmen damals gar nicht gedacht wurde – er wollte in dieses Projekt Tageszeitung ein bisschen Sachverstand bringen, was eine Geschäftsführung angeht. Es mussten ja Druckereiverträge und Ähnliches abgeschlossen werden.

Wart ihr zwei euch, was das angeht, ähnlich?

Das könnte man so sagen. Auch auf den Nationalen Treffen hieß es immer: Genossinnen und Genossen, das brauchen wir alles nicht, dieses ganze juristische Zeug. Aus Erfahrung mit anderen Projekten wusste ich aber, dass ein juristisches Konstrukt erforderlich ist, um eine organisatorische Struktur zu haben. Für die verschiedenen Geschäftsbereiche der taz, die es dann gab, hat Kalle mit dem damaligen Steuerberater Gerd Behrens alle möglichen GmbHs gegründet. Inhaber dieser GmbHs war immer der Verein, „Freunde der alternativen Tageszeitung“.

Hast du bei den Geschäftsgründungen auch mitgemischt?

Vom Aufbau einer Unter­nehmensgruppe hatte ich wenig Ahnung, das haben alles Kalle und Gerd Behrens gemacht. Ich habe immer nur zur Kenntnis genommen, das müsse alles sein. Von Anfang an hat Kalle der taz über alle erdenklichen Klippen und Krisen hinweg geholfen. Mein Fazit aus diesen Erfahrungen ist: Kalle ist der heimliche Held der taz, auch wenn man ihm das nicht ansieht.

Kalle habe damals oft mit einem Bein im Knast gestanden, hat der taz-Justiziar Jony Eisenberg bei der letzten Genossenschaftsversammlung gesagt.

Kalle hat auch persönliche Risiken in Kauf genommen, so war das leider, ja.

Hast du ein Beispiel?

Im Sommer gingen die Abozahlen immer zurück. Die Leser zahlten im Juli und August nicht mehr, wenn sie in die Ferien fuhren. Das heißt, die taz lebte von der Hand in den Mund. Manchmal konnten die Gehälter nicht ausgezahlt werden, weil nicht genug Geld da war. Kalle hat dann immer trocken zur Kenntnis gegeben: Wir brauchen wieder eine Rettungskampagne (lacht).

Es gab unzählige Rettungskampagnen.

Das war uns fast peinlich. Die Leute hielten uns schon für verrückt. Ich habe immer gewarnt: Wir hatten letztes Jahr schon eine Rettungskampagne, das bringt doch nichts mehr. Aber es ging nicht anders, und Kalle hat daran geglaubt – und er hat recht behalten.

Wirkte Kalle in solchen Situationen entspannt?

Man musste ihm immer jedes Wort aus dem Mund ziehen. Aber wie er sich verhielt und wie er guckte – da hatte ich schon den Eindruck, dass ihm das innerlich zusetzte. Trotzdem hat er mit der ihm eigenen stoischen Ruhe nach außen gewirkt: Wir machen jetzt das und das. Und irgendwie hat es die taz dann auch immer geschafft. Das Notwendige kam mit Ach und Krach zusammen.

Die Gründung der taz-Genossenschaft hat die Zeitung schließlich in ruhiges Fahrwasser gebracht. Was für einen Anteil hat Kalle daran?

Die Genossenschaft war das große Werk. Die taz gäbe es schon lange nicht mehr, wenn es nicht diese Genossenschafts­gründung gegeben hätte. Kalle hat den Weg dahin eröffnet.

Große Teile der Redaktion waren damals dafür, einen Investor in die Zeitung zu holen.

Da wurde richtig mobilisiert, vor allem von den alten Hasen. Die entscheidende Versammlung wurde von allen Seiten vorbereitet – mit Anwälten und fertigen Konzepten. Kalle, Jony Eisenberg und ich haben lange an den einzelnen Formulierungen getüftelt. Es sollte sicher sein, dass niemand von außen in die Zeitung hineinregieren kann. Mithilfe der anderen Verlagsbereiche der taz hatten wir bei der Mitglieder­versammlung dann die Mehrheit.

Kalle kann hart und entschieden auftreten. Hast du ihn manchmal auch so erlebt?

Ja, aber nie laut werdend. Ich habe ihn auch nie irgendwie böse erlebt.

Die taz ist ja auch dein Kind, Christian. Was bedeutet sie für Kalle?

Das war wohl seine Lebensaufgabe. Sie wurde es immer mehr. Ich weiß nicht, ob er damals auch andere Projekte verfolgte, ich habe mit ihm nie darüber geredet. Aber ich glaube nicht. Im Laufe der späteren Jahre, als ich Bundestags­abgeordneter war und nichts mehr mit der taz zu tun hatte, war mein Eindruck, dass es immer mehr sein Lebenswerk wurde. Zum Teil hat er auch verrückte Ideen entwickelt. Zum Beispiel diesen Hauskauf im Zeitungsviertel in der Rudi-Dutschke-Straße …

… damals noch Kochstraße.

Der Hauskauf war überaus günstig kurz vor der Wende, ein ungeheurer Coup. Der taz hat das später finanziell vieles erleichtert. Kalle fing an, ein richtig großer Geschäftsmann zu werden. Bis jetzt hin zum Neubau in der Friedrichstraße, der ja Millionen gekostet hat. Ich hätte viel mehr gezögert und Angst gehabt, mir etwas ans Bein zu binden, nach dem Motto: Das kann doch nicht gutgehen. Aber Kalle war immer stoisch und sicher, dass er auf dem richtigen Weg ist.

„Kalle ist der heimliche Held der taz, auch wenn man ihm das nicht ansieht“

Die gute Vermögenssituation der taz ist Kalles Verdienst?

Eindeutig ja. Aber natürlich auch der Genossinnen und Genossen, die sich die taz leisten, ohne einen finanziellen Vorteil davon zu haben. Dass das so gut klappt, habe ich bei der Gründung der Genossenschaft nicht vermutet. Sicherlich auch ein Verdienst von Kalle. Nicht nur allein. Konny Gellenbeck und andere haben da sehr stark mitgewirkt.

Bist du Kalle auch persönlich näher gekommen?

Nein. Irgendwann hat er geheiratet. Mehr habe ich eigentlich nicht gewusst, was private Dinge betrifft.

Mit Kalle tritt nun auch die Gründergeneration ab. Was heißt das für die Zukunft der taz?

Wenn ich das wüsste! Ich bin da sehr skeptisch. Wichtig ist, dass die Leute, die im Vorstand und Aufsichtsrat das Sagen haben, wenigstens noch einen Hauch von politischem Anspruch haben, der der Gründung der taz zugrunde lag.

Schwingt da auch Kritik an der Redaktion und der Berichterstattung mit?

Ich habe mich schon unendlich über taz-Berichte geärgert. Aber ich war noch nie in Ver­suchung, mein Abo zu kündigen.

Was wünschst du Kalle?

Ich hätte mir gewünscht, dass er auf seine alten Tage noch ein bisschen weiter in irgendeiner Funktion seinen ungeheuren Erfahrungsschatz einbringt. Leider will er das nicht. Und da respektiere ich, dass er sagt, ich will jetzt mal meine Ruhe haben.

Plutonia Plarre, 64, ist Redakteurin im Berlinteil der taz. Sie war zwar nie mit Kalle Pferde stehlen, hat mit ihm aber Äpfel geerntet.