Keine falschen Kompromisse

Vom Geschäftsführer zum Bauherren, vom Bauherren zum Baumenschen. Kalles Herz schlägt für Architektur

Im noch leeren taz Neubau Foto: Elke Seeger

Die Ära des Bauherren Kalle Ruch begann Mitte der achtziger Jahre, als es in den taz-Redaktionsräumen an der Wattstraße in Berlin-Wedding räumlich eng wurde. Er engagierte den Architekten Gerhard Spangenberg, den er kennengelernt hatte, als dieser eines seiner Projekte vorstellte: eine Hochgarage, die zu einem Kindergarten umfunktioniert wurde. „Das gefiel mir“, sagte Kalle Ruch knapp und bewies schon zu Beginn seiner Bauherrentätigkeit mit seiner typisch wortkargen, prägnanten Art ein Gespür für gute Architektur.

Als Qualifikationen brachte der Bauherr Kalle eine skeptische Sprödigkeit und eine ausgeprägte Empfindlichkeit mit, erinnert sich Gerhard Spangenberg. Er stellte sich gegen gerade angesagte Sichtweisen. Im Gespräch mit den Planern ging er jeder Entwurfs- und Kostenentscheidung bis ins Detail nach und entschied dann ohne Zögern. So entstand wie im Selbstlauf ein architektonisches Leitbild. Der Dialog zwischen Altbau und Neubau, so sperrig wie offen, wurde zum gebauten taz-Markenzeichen und zum neuen, heute alten Domizil an der Rudi-Dutschke-Straße. Kalle durchlief, so Gerhard Spangenberg, bei dem gemeinsamen Bauvorhaben den Werdegang vom Bauherren zum perfekten „Baumenschen“. „Ach, solch einen hätte ich gern mal wieder“, resümiert Spangenberg heute wehmütig.

Anfang 2013 bot sich die Chance, an der Friedrichstraße ein modernes Medienhaus zu bauen. Alle taz­le­r*in­nen würden wieder unter einem Dach arbeiten können – zuvor hatte die taz aus Platzmangel Büroräume auf der anderen Straßenseite anmieten müssen. Der Baumensch Kalle ergriff nun diese Gelegenheit ohne langes Überlegen: Mit Weitsicht, Geradlinigkeit und Begeisterung realisierte er den zweiten Bau der taz. Mit konstanter Unterstützung von Andi Bull war Kalle die treibende Kraft – zwischen der ersten Idee, dem Kauf des Grundstücks und der Kür des Architekturbüros E2A zum Wettbewerbsgewinner verging nur ein Jahr.

Wim Eckert von E2A erinnert sich so an die Zusammenarbeit mit Kalle: Er stelle im richtigen Moment Dinge infrage, nicht zu früh und nicht zu spät. Nie zu unbestimmt und nie zu bestimmt. „Überlegt euch das noch mal“, sage er dann. „Zweimal hat er angeregt, es uns nochmals zu überlegen: einmal bei der Position der großen Treppen und einmal bei den blauen Fließen in den Nasszellen. Die Treppe steht heute zu Recht nicht mehr an der Friedrichstraße, und aus den monochromen blauen Fliesen ist ein polychromes Bild geworden, das uns beide an Gerhard ­Richters ‚256 ­Farben‘ erinnert.“

Kalle ging es dabei auch immer um die taz­le­r*in­nen. Über die blauen Fliesen sagte er: „Wenn jemand nach einer Redaktionskonferenz schlecht gelaunt auf die Toilette geht, machen die blauen Fliesen so blass.“

Eines beherrscht der Baumensch Kalle wie kein anderer: In kluger und unaufgeregter Weise förderte er in allen Prozessen das Miteinander, vereinte allen vorhandenen Sachverstand und das Engagement der tazler*innen, schweißte kompetente Planerteams zusammen, vertraute, erzeugte Teamgeist und gab jedem das Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein. Gleichzeitig hörte er genau zu und erfasste Inhalte unglaublich rasant.

Kein Mensch der großen Worte, aber einer mit klarer Meinung und präziser Sicht auf die Dinge, so beschreibt ihn die Projektsteuererin des taz Neubaus, Jeanette Scholz. Selbst als Kalle eine nicht unerhebliche Budgeterhöhung vor dem gesamten Projektteam freigeben musste, habe er nur kurz genickt. Mehr als Coolness war in seinem Gesicht beim besten Willen nicht zu lesen.

Mit Kalle zu bauen hieß: Kein Weg ist zu weit, kein Problem zu groß. Egal, was anlag, eine schwierige Aufgabe, eine Entscheidung mit Deadline, die Antwort von ihm blieb meistens dieselbe: „Kein Problem.“ Und auf sein Wort war Verlass, erzählt der Bauleiter Manuel Sedeño. Selbst im anstrengenden, nervenzehrenden Bauprozess bewahrte er Ruhe, vertraute und unterstützte das Planerteam entschlussfreudig bis zur Fertigstellung.

Ging es um Architektur versus andere Faktoren, so antwortete Kalle meist: „Das letzte Wort hat der Architekt!“ Sein Herz schlägt für die Architektur. Er weiß: Wenn es wirklich gut werden soll, darf man keine falschen Kompromisse machen.

Kevin Rahner, Tragwerksplaner des taz ­Neubaus erinnert sich an Kalles intensives Interesse an ziemlich komplexen statischen Details. Fachthemen wie zum Beispiel die Vorspannung der Tragkonstruktion wollte Kalle ganz genau verstehen. Im Gedächtnis blieb Rahner aber vor allem der erste Kontakt mit dem neuen Bauherren. In der noch etwas steifen Vorstellungsrunde fragte dieser ihn, ob er auch Schweizer sei wie die Architekten von E2A. Als Rahner antwortete, er sei gebürtiger Freiburger, antwortete Kalle: „Freiburg, da habe ich mit Andreas Bull in den Neunzigern gegen einen Tunnel der Bundesstraße und gegen das Abholzen der Bäume demonstriert.“ Für Kevin Rahner eine sehr ungewöhnliche erste Berührung mit einem Bauherrn, das Eis war im Nu gebrochen.

Die regelmäßigen Baustellenbesuche von Kalle sind vielen in Erinnerung. Oft lief er in sich gekehrt über die Baustelle, erkannte jedes neu hinzugekommene Detail, erfreute sich in seiner stoischen Gelassenheit am Werden des Hauses, hinterfragte nachdenklich und erkannte noch vorhandene Probleme.

Laut Wim Eckert verfügt Kalle über die notwendige Ausdauer, um ein Haus fertigzubringen. „Kalle weiß, dass Bauen etwas Langsames und Kontinuierliches ist. Er war bei jeder Planungssitzung dabei und sehr wahrscheinlich mehr auf der Baustelle als jeder Einzelne von uns.“

Seinen physischen Fußabdruck hinterließ er eines Morgens, als das gesamte Projektteam mit ihm das Gebäude zur Baustellenrunde durchstreifte. Ein sehr netter, etwas älterer Bauarbeiter hatte den ganzen Vormittag damit verbracht, das Treppenpodest der Haupttreppe zu betonieren, und seine Arbeit gerade fertiggestellt. Daher nahmen alle den südlichen Treppenlauf. Alle? Kalle nahm den nördlichen und trat mitten in den frischen Beton. Der Blick von Kalle war so geschockt und schuldbewusst, dass der Schreck des Bauarbeiters sofort verflog und er beschwichtigend auf Kalle einwirkte.

Der Baumensch Kalle hat viele Abdrücke hinterlassen. Er hat allen am Bauen Beteiligten die Freude bereitet, Teil großartiger Projekte zu sein. Er hat mit Mut, Weitsicht und architektonischem Verständnis dafür gesorgt, dass zwei außergewöhnliche Gebäude für die taz­le­r*in­nen, die Ge­nos­si­n*in­nen und für uns alle geschaffen wurden.

Der Weg und die Resultate sind beide so wertvoll – ohne Karl-Heinz Ruch sind sie nicht zu denken, und nur mit ihm sind sie so wunderbar geglückt.

Der Text entstand unter Mitwirkung von Ulrike Lickert, Gerhard Spangenberg, Jeanette Scholz, Manuel Sedeño, Kevin Rahner und Wim Eckert