Reportagen von Martha Gellhorn: Zwischen Krieg und Glamour

Martha Gellhorn ist eine der größten Reporterinnen des 20. Jahrhunderts. Nun sind Texte von ihr erschienen, die bis in die Gegenwart nachhallen.

Martha Gellhorn, hier nach der Fasanenjagd mit ihrem Mann 1940. Er heißt übrigens Ernest Hemingway Foto: dpa

Man könnte meinen, es handle sich um eine aktuelle Reportage aus dem englischen Unterhaus. Die „Orrrrrder, orrrrrrder“-Rufe sind uns längst vertraut. Allein der letzte Absatz lässt an der Aktualität zweifeln: „Die Engländer sind sehr stolz auf ihr Parlament, und Woche für Woche, Jahrhundert nach Jahrhundert, haben sie guten Grund dazu.“ Martha Gellhorn, die diese Worte in den 1950er Jahren aufschrieb, konnte natürlich nichts von den Brexit-Shambles ahnen.

Gellhorn war bereits zu Lebzeiten eine legendäre Kriegs- und Krisenreporterin. Nachzulesen sind ihre journalistischen Arbeiten der Jahre 1931 bis 1959 nun in dem Band „Der Blick von unten“. Der Titel ist programmatisch. Stets sind ihre Texte von einer aufrichtigen Empathie für die Schwächsten gekennzeichnet, ohne je kitschig oder sentimental zu wirken. Ihr schonungsloser, bisweilen polemisch anmutender Schreibstil in klarster Sprache lässt die Bilder von Armut und Elend umso unvorstellbarer wirken.

Zu Beginn ihrer Karriere bereist Gellhorn gemeinsam mit der Fotografin Dorothea Lange die ländlichen Gebiete der USA zur Zeit der Great Depression. Sie trifft auf Familien, die kollektiv an Syphilis und Pellagra, einer Nährstoffmangel­erkrankung, leiden. Familien, die, weil sie weder Kleidung noch Schuhe besitzen, ihre Kinder nicht in die Schule schicken können.

Martha Gellhorn: „Der Blick von unten. Reportagen aus sechs Jahrzehnten“. Übers. v. N. Hofmann. Edition Tiamat, Berlin 2019, 360 S., 28 Euro

Der Text „Mein lieber Mr. Hopkins“ fasst drei Berichte des Gesehenen zusammen. Es sind keine Reportagen; als Briefdokumente und Zeugnisse sind sie umso eindrücklicher, weil sie die Wut und das Entsetzen der Autorin festhalten. Ebendiese Gefühle wird sie auch dem Präsidenten Franklin D. Roosevelt und seiner Frau Eleanor, einer Schulfreundin der Mutter, vor amüsiert-entsetzter Tischgesellschaft schildern.

Da ist Gellhorn noch immer in ihren Zwanzigern. Einige Jahre zuvor hat sie, zum Entsetzen des Vaters, das College abgebrochen, um nach Paris zu gehen, wo sie sich versehentlich in ein Stundenhotel für Prostituierte einmietet. Viel mehr als ihre Schreibmaschine trägt sie nicht bei sich; natürlich muss die Geschichte einer der größten Reporterinnen des 20. Jahrhunderts genau so beginnen.

In gesellschaftlicher Schizophrenie erstarrt

Ab Ende der 1930er berichtet sie von einem Europa, das selbst­vergessen in den Zweiten Weltkrieg taumelt. Während Hitler mit aller Konsequenz seine Kriegs­vorbereitungen trifft, erscheinen die Engländer in beispielloser gesellschaftlicher Schizophrenie erstarrt. Obgleich man Luftschutzbunker baut und Gasmasken für den Hausgebrauch anprobiert, geben Befragte zu verstehen, man wisse doch, dass es nicht zu einem Krieg kommen werde.

Vielleicht sind die Engländer ein fantasieloses Volk. Oder der Glaube an die Appeasement-Politik gegenüber Hitler war unverbrüchlich. Gellhorn dagegen berichtet von der bitteren Verzweiflung der tschechoslowakischen Soldaten, die ihr Land kampflos den Deutschen überlassen mussten.

Die erschütterndste Reportage eröffnet den Band. Gellhorn und ihr Begleiter bleiben eines Abends mit ihrem alten Dodge irgendwo in Mississippi liegen. Sie werden von zwei Männern aufgelesen, die ihnen von dem geplanten Lynchmord an einem jungen Schwarzen namens Hyazinth erzählen. Der Lynchmord geht in schaurig un­aufgeregter Atmosphäre vor sich. Gellhorns nüchterne Schilderung verwandelt die Szenerie in etwas, das wie ein böser Traum anmutet. Ein Albtraum eines anderen Amerikas. Einer, der bis heute nachwirkt.

Gellhorns Reportagen sind beides: Berichte aus ferner Vergangenheit und Erklärung ihres Nachhalls in der Gegenwart.

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