wortwechsel
: Und der Gewinner ist – Brexit-Boris

Last order placed – der „echte“ Wählerwille vollstreckt? taz-LeserInnen haben Zweifel. Bei Boris Johnson teilen sich die Meinungen. Manche hoffen auf einen späteren „Brexit mit Exit“

Mr Johnson auf Stimmenfang, hier: Grimsby Fish Market, UK Foto: Andrew Parsons/Polaris/laif

„Brexit als Geschenk zu Weihnachten“,

taz vom 16. 12. 19

Undemokratische Wahl?

Da ich als deutscher Bürger ein Wahlsystem mit proportionaler Repräsentation kenne, war ich erst verwundert und dann schockiert, dass das „first pass the post“-Wahlsystem als demokratisch und fair bezeichnet werden kann. Es bedeutet, dass zum bei einer Wahlbeteiligung von 60 Prozent, ein/e KandidatIn mit 30 Prozent der abgegebenen Stimmen gewählt wird, wenn alle anderen KandidatInnen weniger als 30 Prozent der Stimmen erhalten haben. Nach meiner Meinung ist ein solches Wahlsystem vielleicht proto-demokratisch oder wahrscheinlicher pseudodemokratisch. Ich benutze eine einfache Regel, um ein demokratisches Wahlsystem zu erkennen: ein Bürger – eine Stimme – ein Ergebnis. In dieser Wahl haben die „Conservatives“ 43,6 Prozent der Stimmen und 56 Prozent der Sitze erhalten. Andere Parteien: 56,4 Prozent der Stimmen. Anders ausgedrückt: 56 Prozent der Bürger im UK haben gegen die „Conservatives“ gestimmt und dafür haben die „Conservatives“ im Parlament 365 von 650 Sitzen erhalten und das entspricht 56 Prozent der Sitze im Unterhaus. Außerdem: Alle demokratischen Wahlsysteme, die ich kenne, ignorieren gezielt die Nichtwähler. Diese Bürger sollten in einem wirklich demokratischen System durch leere Sitze im Parlament dargestellt werden. Dies würde PolitikerInnen hoffentlich überzeugen, politische Alternativen anzubieten und sich endlich für die politische Bildung vom Kindergarten bis zur Universität einzusetzen. Als Resultat des „demokratischen“ Wahlsystems im UK hat ein professioneller Lügner die Wahl gegen einen Kandidaten mit politischer Integrität gewonnen. Sind die Ähnlichkeiten mit einem anderen „demokratischen“ System, wo Dollars über die Wahl von Präsidenten entscheiden, rein zufällig?

Reinhard Huss, Leeds, England

Brexit-Überläufer

Meines Erachtens gibt es bei den britischen Wählern keinen Brexit-Wahlsieg. Pro Brexit stimmten:

Tories 43,6. Brexit 2,0. DUP 0,8. UKIP 0,1. Also 46,5 Prozent insgesamt. No Brexit: Labour 32,2. LibDem 11,6. SNP 3,9. Greens 2,7. Sinn Fein 0,6. Plaid 0,5. SLDP 0,4. Alliance 0,2. Also 52,1 Prozent insgesamt. Meines Erachtens sind die Pro-Brexit-Labour-Wähler zu den Tories übergelaufen und die No-Brexit Tories zu den Liberalen. Das heißt, der Brexit wird nun gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung durchgeführt. Es ist ein Sieg des Mehrheitswahlrechts und der Boulevard-Presse. Hans Baier, Frankfurt a. M.

Boris Churchill Johnson?

Der vor allem von den deutschen Medien viel geschmähte Boris Johnson ist nicht nur der große Sieger in Großbritannien, sondern auch in Europa – genauer: in der EU. Denn Boris Johnson hat vor den Wahlen ein neues, für Großbritannien eindeutig günstigeres Austrittsabkommen mit der EU abgeschlossen als die unglücklich agierende Frau Theresa May. Und nun verfügt Boris Johnson mit seiner konservativen Partei über eine komfortable absolute Mehrheit, obschon er im Vorfeld der Wahlen im alten Parlament eine Niederlage nach der anderen hat einstecken müssen. Es erinnert mich in gewisser Weise an Winston Churchill, dem Großbritannien und Europa (somit auch Deutschland) unermesslich viel zu verdanken haben. Jürg Walter Meyer, Leimen

Keine Frau für Labour?

Es gibt sehr kompetente Frauen in der Labour-Partei, die auch sehr wohl das Zeug zur Parteiführung hätten – wie zum Beispiel Rebecca Long Bailey oder Angela Rayner. Deshalb ist es keine ausgemachte Sache, dass die nächsten Wahlen verlorengehen, wenn die Labour-Partei eine von ihnen zur Vorsitzenden wählen würde für die nächsten fünf langen Jahre, während denen sich die Brexit-Verhandlungen zäh dahinziehen und das „Weihnachtsgeschenk“ dann ziemlich angegammelt sein wird (sollte von britischer Seite aus keine enge Anbindung an die EU gewollt werden) und also nicht jemand aus London, wie Keir Starmer, sondern jemand aus dem vernachlässigten Norden des Landes gewählt würde. Manuela Kunkel, Stuttgart

Neoliberaler dritter Weg

Die taz schlägt eine Bresche für den neoliberalen dritten Weg und behauptet, es seien die versprochenen sozialen Wohltaten gewesen und nicht die Pro-EU-Haltung (und die damit verbundene Blockade im Unterhaus). Ebendas schreibt die FAZ auch. Ben99 auf taz.de

Das kleinere Übel?

Auf den ersten Blick hat Boris Johnson mit seinen Tories die Wahl in England klar und haushoch gewonnen, aber vor allem auch, weil Labour und die anderen einfach keine Alternative waren. Die Briten, haben – gefühlt – das kleinere Übel gewählt. Dieses Wahlergebnis bewerte ich gar positiv, denn nun muss Boris Johnson „liefern“. Und ich bewerte es positiv aus einem genau gegensätzlichen Standpunkt heraus: Sollte der Brexit nicht gelingen, was dessen Auswirkungen (Grenzkon­trollen, massive Erhöhung der Bürokratie, Arbeitslosigkeit und vieles andere mehr) angeht, wird Boris Johnson auch daran gemessen und könnte aus dem Amt gejagt werden. Auf der anderen Seite wird sich ein Lager von Briten entwickeln (vor allem die Jugend), die dann wieder zurück in die EU wollen, weil sie die Schäden aus dem Brexit zu stoppen versuchen. Somit zwar kein Exit vom Brexit, aber ein potentieller Brexit mit Exit. Sven Jösting, Hamburg