Menschen mit Behinderung in Arbeit: Beim Bestatter lebt die Inklusion

Der Bestatter Grieneisen hat den Berliner Inklusionspreis bekommen. Warum klappt hier, was ansonsten so schwer zu sein scheint?

Mitarbeiterin des Bestattungsunternehmens steht neben einem Tisch mit bedruckten Urnen

Grieneisen-Mitarbeiterin Christiane Rietz: „Am Anfang dachte ich: Auweia, ist das traurig“ Foto: Karsten Thielker

BERLIN taz | Gestorben wird immer. Der Weg zur Berliner Zentrale des Bestattungsunternehmens Grieneisen ist gesäumt von Mitbewerbern, die mit Billigpreisen um Kundschaft buhlen. Direkt gegenüber liegen die DRK-Kliniken Westend in Charlottenburg. Grieneisen ist ein Traditionsunternehmen: 1830 als Sargtischlerei gegründet, 1869 in die Bestattungsbranche eingestiegen und inzwischen Teil einer deutschlandweit agierenden Aktiengesellschaft. Die im Dreikaiserjahr 1888 verstorbenen Wilhelm I. und Friedrich III. hat Grieneisen ebenso unter die Erde gebracht wie Hildegard Knef und Harald Juhnke. Mehr als 30 Filialen in Berlin, 180 Mitarbeiter:innen: Die Bestattungsbranche ist durch Discountangebote zwar hart umkämpft, aber Grieneisen steht wirtschaftlich offenbar gut da.

Vor diesem Hintergrund ist es eigentlich nur eine Art Randnotiz, ein zu vernachlässigendes Marketing-Argument, dass von den 180 Grieneisen-Mitarbeiter:innen 22 eine amtlich anerkannte Schwerbehinderung haben. Das ergibt eine Beschäftigungsquote von 12 Prozent. Gesetzlich vorgeschrieben sind 5 Prozent für alle Betriebe mit mehr als 20 Arbeitsplätzen, ein Auszubildender zählt doppelt.

Nun ist es schon selten genug, dass ein Privatunternehmen in Berlin die Beschäftigungsquote für Menschen mit Schwerbehinderung überhaupt erfüllt. Weil es aber die Quote deutlich übererfüllt, erhielt Grieneisen im November den Inklusionspreis des Landes Berlin in der Kategorie „Mittelstand“.

Denn Fakt ist: Ein Drittel der privaten Arbeitgeber beschäftigt gar keine Menschen mit Behinderung, ein weiteres Drittel weniger, als sie müssten. Sie zahlen lieber bis zu 320 Euro Ausgleichsabgabe pro Monat und nicht besetzter Stelle.

Beschäftigung Die Bundesagentur für Arbeit führt in ihrer Berlin-Statistik im Monat September 2019 rund 7.500 arbeitslose Menschen mit Schwerbehinderung, davon ein Drittel Langzeitarbeitslose. Rund 8.600 sind in Werkstätten für Menschen mit Behinderung beschäftigt, Tendenz steigend. Arbeitgeber können im Rahmen des Budgets für Arbeit Lohnkostenzuschüsse bis zu 75 Prozent für die Beschäftigung eines Menschen mit Schwerbehinderung erhalten.

Quote 5 Prozent ihrer Arbeitsplätze müssen Betriebe mit 20 und mehr Arbeitsplätzen an Schwerbehinderte vergeben. Diese Quote erfüllen vor allem die meisten privaten Arbeitgeber nicht, ein Drittel beschäftigt gar keine Menschen mit Schwerbehinderung. Wer die Quote nicht erfüllt, zahlt bis zu 320 Euro pro Monat und nicht besetzten Pflichtarbeitsplatz. Davon wiederum kann sich ein Unternehmen quasi freikaufen, indem es Aufträge an Werkstätten für Menschen mit Behinderung vergibt. Damit wird jedoch ein Arbeitsmodell gefördert, das nicht inklusiv und bei dem die geringe Bezahlung hoch umstritten ist.

Preis Seit 2003 vergibt das Land Berlin den Inklusionspreis an in dieser Hinsicht vorbildliche Arbeitgeber:innen. Neben Grieneisen erhielten 2019 das Repro- & Werbezentrum Prenzlauer Berg und der Krankenhauskonzern Vivantes den Preis.

„Ich weiß selbst gar nicht genau, welche der Mitarbeiter eine Schwerbehinderung haben. Das ist doch nicht wichtig“, sagt Regionaldirektor Gerhard Bajzek in seinem Büro in der Grieneisen-Zentrale. Und damit ist im Grunde schon sehr viel gesagt. Es scheint hier eine große Unaufgeregtheit zu geben, an der auch die üblichen Argumente abprallen, die Unternehmen anbringen, warum sie keine Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen.

Eine repräsentative Befragung der Bertelsmann Stiftung hat solche Argumente 2014 erhoben. Nummer 1: Es bewirbt sich ja keiner, woher also die Mitarbeiter nehmen? „Es ist eigentlich ganz leicht“, sagt Bajzek und meint damit die jahrelange Zusammenarbeit des Unternehmens mit der Union Sozialer Einrichtungen (USE), die unter anderem Werkstätten für Menschen mit Behinderung betreiben. Schon länger kamen Teile der Büro- und Sargwerkstattausstattung aus den Werkstätten, schließlich die ersten Mitarbeiter:innen.

Christiane Rietz ist eine von ihnen. Die zierliche 50-Jährige sitzt im Büro der Abteilung „Trauerdruck“. Einladungen, Dankeskärtchen und Urnenbeschriftungen werden hier produziert. Auf einem Tisch, neben den Musterurnen und halbfertigen Bestellungen, vertrocknet der Blumenstrauß von der Verleihung des Inklusionspreises. Der Blick aus dem Fenster geht in den Hof mit den Leichenwagen. „Am Anfang dachte ich: Auweia, ist das traurig, immer mit dem Tod zu tun zu haben. Gerade für mich …“, sagt Rietz. Seit Kindestagen sind depressive Schübe ihre Begleiter, in engen, lauten Räumen, bei zu viel Druck sei sie schnell überreizt. „Den Berliner Arbeitsmarkt habe ich als sehr hart empfunden“, sagt Rietz. Eine Zeitlang habe es jeweils mit einem Job funktioniert, „aber immer auf meine Kosten“.

Irgendwann ging gar nichts mehr. Rietz verabschiedete sich vom ersten Arbeitsmarkt, machte in der USE-Werkstatt für Menschen mit Behinderung eine neue Ausbildung zur Mediengestaltung. 2017 kam sie für ein Praktikum zu Grieneisen – und blieb. Erst im Rahmen eines „Außenarbeitsplatzes“ mit Betreuung durch die USE, inzwischen auf einer regulären Vollzeitstelle.

Zu wenig Die taz würde den Inklusionspreis sicher nicht bekommen: Nicht einmal die Hälfte, nämlich 6 von 14 Pflichtarbeitsplätzen, sind besetzt. Immerhin geht der Trend insgesamt nach oben: Vor drei Jahren waren nach Auskunft der Geschäftsführung nur 2 von 12 Pflichtarbeitsplätzen besetzt.

Empfehlung: „Die taz hat doch Arbeitsplätze mit ganz verschiedenen Anforderungen – am Empfang, im Café. Man muss es ernsthaft versuchen, dann ist es ganz leicht“, sagt Gerhard Bajzek von Grieneisen.

Die Angst, wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt zu scheitern, sei da gewesen. „Aber hier wird grundsätzlich darauf geachtet, was die Menschen brauchen, egal ob sie eine Behinderung haben oder nicht“, sagt Rietz. Ob sie besondere Arbeitsbedingungen habe? „Es wäre immer möglich, die Dinge zu meinen Gunsten zu verändern.“ Und vielleicht ist genau das der Grund, warum sie gerade keine besonderen Arbeitsbedingungen braucht, sondern auf einer Vollzeitstelle arbeitet und nebenbei den Chor des Unternehmens, einen inklusiven Chor, mitinitiiert hat.

Argument Nummer 2: Menschen mit Schwerbehinderung sind den Anforderungen des Arbeitslebens nicht gewachsen. Regionaldirektor Bajzek sagt: „Ich erwarte gar nicht, dass ein Mensch 100 Prozent leistet, sondern das, was er leisten kann.“ Diese Haltung sei für alle Kolleg:innen, gerade auch die ohne amtliche Behinderung, eine enorme Entlastung. „Wenn ein Mensch hier arbeiten möchte und wir das möglich machen, dann bekommen wir einen wahnsinnig motivierten und zufriedenen Mitarbeiter.“

Bajzek erzählt von einem Beschäftigten im Sarglager. Mit einer Lernbehinderung kam auch er über die USE, wollte unbedingt Bestatter werden. Inzwischen habe er so viel Sicherheit gefunden, dass er seinen Führerschein mache. „Dafür gibt es ja auch die Unterstützung durch die USE“, so Bajzek. Regelmäßig kommt der Fachdienst für Integration ins Unternehmen.

Warum es so viele Firmen in Berlin gebe, die die Beschäftigung von Menschen mit Schwerbehinderung trotzdem scheuen? „Die haben es noch nicht probiert. Es ist wirklich ganz leicht“, sagt Bajcek. Schon möglich, dass es bei der Beschäftigung von Menschen mit Beeinträchtigungen Grenzen gebe. „Aber an diese Grenzen sind wir noch nicht gestoßen.“ So einfach kann man das sehen.

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