Künstler*innen in Bagdad und Erbil: Traum vom besseren Irak

Künstler erhalten die Proteste auf dem Tahrir-Platz in Bagdad am Leben. In ihren Werken verarbeiten sie die Zerrüttungen ihrer Gesellschaft.

Der Geiger Amin Muqdad steht lächelnd im Freien

Wollte sich für die Erfahrungen unter dem IS rächen – mit einem Friedensprojekt: Amin Muqdad Foto: Christopher Resch

Dass Amin Muqdad an diesem sonnigen Herbsttag im Garten steht, die Violine am Kinn, grenzt an ein Wunder. Vor ihm 16 Musiker*innen, er nickt ihnen zu, sie heben ihre Geigen. Und schon schicken sie die ersten Takte von Beethovens „Ode an die Freude“ in den wolkenlosen blauen irakischen Himmel über Erbil.

Amin Muqdad und sein Orchester kommen aus Mossul, aus jener Stadt im Norden des Iraks, die nach 2014 zweieinhalb Jahre lang unter der Schreckensherrschaft des „Islamischen Staats“ stand. „Die Musik hat mich vor dem IS und seinem Terror gerettet“, sagt Muqdad heute. Dabei hätte die Geige, seine große Liebe, ihn damals fast in den Kerker gebracht.

Unter der Herrschaft des IS war Musik verboten. Amin Muqdad musizierte trotzdem weiter in seinem Zimmer in Mossul, der umkämpften Metropole und zweitgrößten Stadt des Iraks. Er gab sogar zwei Studenten per Video Geigenunterricht. Doch irgendwann nach 2014 standen plötzlich IS-Kämpfer in seiner Wohnung, nahmen ihm die Musikinstrumente ab und drohten ihm.

Muqdad tauchte sechs Monate lang bei einem Verwandten unter. Mitte 2017 wurde der IS militärisch besiegt und Mossul war wieder frei. Aber die Wunden aus dieser Zeit sind auch heute noch nicht verheilt. Auf der Suche nach neuer Hoffnung gründete Amin Muqdad das „Mosul Light Orchestra“.

Rache durch Frieden

Er sagt, das habe sich angefühlt wie ein Sieg des Lebens über den Tod. „Ich wollte mich für all die Erfahrungen unter dem IS rächen, und zwar am besten mit einem Friedensprojekt.“ Auch wenn es vielleicht zynisch klingen mag: Selten entfalten Kunst und Kultur eine so starke Kraft wie in Zeiten von Kriegen und Krisen. Und von diesen hatte der Irak reichlich.

Eine Videoaufzeichnung zeigt, wie Amin Muqdad Anfang Dezember auf der Raschid-Straße im Zentrum Bagdads steht. Hinter ihm prangt ein Graffito, auf dem in pinkfarbenen arabischen Lettern „Leben“ steht. Ein Freund filmt und streamt das Konzert auf Facebook. Künstlerinnen und Künstler spielen bei den seit über zwei Monaten anhaltenden Protesten in Bagdad und anderen Städten des Zentral- und Südiraks eine wichtige Rolle.

Ihre Musik, ihre Graffiti, ihre Gesänge würden für ein Gemeinschaftsgefühl unter den Protestierenden sorgen, so Muqdad, ihnen Kraft geben oder die Gedanken in eine angenehmere Richtung lenken. Wenigstens kurz. Angesichts der brutalen Überfälle von Straßengangs, die von der Regierung mindestens geduldet würden, sei das nicht zu unterschätzen.

Eine Protestrepublik mit eigenen Ministerien

In den Abendstunden vom 6. auf den 7. Dezember erschossen Angreifer aus vier Autos heraus 16 Protestierende. „Das war eine entsetzliche Nacht“, sagt Hussain Muttar. Der Ingenieursstudent ist zugleich Künstler, mit Hilfe des deutschen Goethe-Instituts hat er gerade einen Fotoband über das historische und das heutige Bagdad herausgebracht.

Untypisch im Vergleich zuden früheren Aufständen im Irak, etwa gegen Korruption: Frauen prägen die Proteste

In der Universität war er seit Wochen nicht mehr. „Wir streiken“, sagt der 21-Jährige. Das Camp der Protestierenden rund um den Tahrir-Platz im Zentrum Bagdads gleicht einer Protestrepublik mit Einlasskontrollen und eigenen „Ministerien“ für Sicherheit oder Gesundheit. Hussain Muttar übernimmt hier Schichten im ärztlichen Team. „Wir haben einen gemeinsamen Gegner“, sagt Muttar. Er meint damit die heute herrschende, korrupte Elite des Landes. Und er richtet sich gegen eine bestimmte Art des Denkens. „Ein Denken in Kategorien von Zerstörung, Mord und Diktatur“, sagt Muttar, „eine Sicht, die immer die Oberhand behalten muss, koste es, was es wolle.“

Die Mehrheit der heute im Irak protestierenden Menschen ist jung, oft sehr jung. Doch die Jugend bekommt auch Unterstützung von erfahreneren Kräften. Etwa von der irakischen Anwaltskammer. Sie ist auf dem Tahrir-Platz in Bagdad mit mehreren Info-Ständen vertreten, aber auch von Menschen aus den wohlhabenderen Vierteln Bagdads, wie Hussain Muttar erzählt. Vor wenigen Wochen hätten sich auch die Reichen in ihren schicken Wagen durch wilde Fahrten der nächtlichen Ausgangssperre widersetzt.

Die Demonstrationen lassen Bruchlinien verschwinden

Untypisch im Vergleich zu den früheren Aufständen gegen die grassierende Korruption und die Perspektivlosigkeit der Jugend ist auch, dass so viele Frauen auf die Straßen gehen. Etwa Sarah al-Zubaidi, eine junge Filmemacherin aus Kerbela. Sie sagt: „Erst die Demonstrationen haben das wahre Gesicht unserer Stadt offengelegt. In Kerbela gab es traditionellerweise viele Einschränkungen für Frauen. Doch heute gehen sie Seite an Seite mit den Männern auf die Straße.“

Es scheint, als ließen die Proteste die vielen Unterschiede und Bruchlinien im Irak nach und nach verschwinden. Jahrelang wurden die Spannungen zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen aktiv geschürt, auch seitens des einflussreichen Nachbarn Iran. Die verschiedenen sozialen Gruppen ließen sich auf diese Weise sehr leicht gegeneinander ausspielen. Die seit Wochen anhaltende Revolutionsstimmung auf dem Tahrir-Platz in Bagdad nährt nun aber die Utopie eines geeinten und gerechteren Iraks.

Eine Vision, die auch immer schon eine klare Absage an den Nachbarn Iran beinhaltet. Doch der will wiederum seinen Einfluss hier nicht verlieren. Die Mullah-Diktatur in Teheran setzt ökonomisch wie geostrategisch auf einen instabilen, von ihr abhängigen Irak.

Kein Wunder, dass viele Iraker*innen sich nur als Schachfiguren auf dem Spielfeld lokaler und internationaler Politiker begreifen. Deshalb ist der Tahrir-Platz, der „Platz der Befreiung“, als Symbol für die aktuelle Protestbewegung so wichtig. Durch ihre Dauerpräsenz demonstrieren die Menschen für ihr Recht auf Mitsprache, Teilhabe und Mitgestaltung. Schon allein für diese nun weit verbreitete Haltung und Stimmung habe sich der Aufstand gelohnt, sagt Hussain Muttar. Trotz der vielen Verletzten und Toten. „Wir werden unsere Meinung nicht mehr verstecken, wir werden nicht mehr stillstehen wie früher, wir werden auf den Straßen bleiben. Selbst wenn sie jeden einzelnen von uns umbringen wollen. Alles hat sich geändert.“

Eine ehemalige IS-Hochburg blüht wieder auf

Die landesweiten Proteste begannen am 1. Oktober nach einer Phase relativer Ruhe in Irak. Die berühmte Mutanabbi-Straße, die „Straße der Bücher“ im Herzen Bagdads, blühte auf, in der früheren IS-Hochburg Mossul fand nach Jahren wieder ein Literaturfestival statt. Auswärtige Kultureinrichtungen wie das deutsche Goethe-Institut organisierten kulturelle Events über Programme wie „Spotlight Iraq“ und vergaben kleinere Stipendien an lokale Kunstinitiativen. Wegen der Revolte und der Auseinandersetzungen wurde die Auftaktveranstaltung der Deutschen kurzfristig von Bagdad nach Erbil verlegt.

Im Garten eines Erbiler Kulturzentrums steht also Amin Muqdad, der Geiger, und muss nun das Orchester bremsen. „Sie möchten unbedingt in Bagdad auf dem Tahrir-Platz spielen“, sagt er lächelnd. „Ich bin eigentlich dagegen. Aber so wie ich die Jungs und Mädchen kenne, machen sie das, egal was ich sage.“

Die Geigenkästen der 16 Musiker*innen sind bunt bemalt und mit Sprüchen versehen. Das sehe schön aus, meint Muqdad, und verhindere auch, dass man die Koffer an den Checkpoints für Gewehrverstecke halte. Mustafa Salim, einer der jungen Musiker hat auf seinen Geigenkasten „Achieve your dream“ gepinselt – erfülle deinen Traum. Vielleicht wird es ja dieses Mal tatsächlich etwas, mit dem Traum von einem besseren Irak.

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