taz-adventskalender
: Ein Buch als Fluchthelfer

Pfaueninsel, Thomas Hettche, Kiepenheuer & Witsch, Berlin 2014, 352 Seiten, gebunden, 19,99 Euro

Wer etwas über Berlin lesen will, hat viel Auswahl. Die schönsten Schriftstücke stellt die taz bis Weihnachten täglich vor. Und es geht nicht nur um Bücher!

Bücher können als Lernmittel dienen, als Propagandainstrument, als Mittel der Aufklärung – oder als bloße Unterhaltung. Sie können aber auch Fluchthelfer sein, indem sie gedanklich in eine andere Welt verhelfen. Das geschieht gerne via Mittelalter-Szenario oder magischem Setting, klappt aber auch am äußersten Rand von Berlin, dort, wo die Havel Brandenburg von Berlin trennt: auf der Pfaueninsel, nach der Thomas Hettche sein 2014 erschienenes Buch auch benannt hat.

Hettches Buch lässt sich auf manche Weise lesen: als verstörende Biografie einer Zwergin namens Marie, die auf der Pfaueninsel ihr – sehr langes – Leben verbringt. Als preußisches Historienbild des 19. Jahrhunderts. Als ein 344 Seiten langer wunderbarer Umgang mit Sprache. Oder eben als Inselführer.

Nicht viel mehr als 100 Meter Wasser und eine halbe Stunde S-Bahnfahrt ab Wannsee liegen zwischen dieser Insel, die Hettche von oben betrachtet an einen gestrandeten Wal erinnert, und dem Festland-Berlin mit seinen heute fast vier Millionen Einwohnern. Abseits der Wochenenden aber steht manchmal kaum eine Handvoll Menschen am Anleger, wenn um neun die erste Fähre die Verbindung herstellt. Es ist dann, als ob die Pfaueninsel Avalon-mäßig hinter einem Nebelvorhang läge, sich nur wenigen erschlösse – und derzeit überhaupt keinem Besucher, weil die Fähre erst wieder am 1. März fährt.

Erster Lektürestopp: auf der Bank vor dem Schloss, derzeit wegen Renovierungsarbeiten auf Jahre geschlossen. In der Hand den blauen Leineneinband mit der stilisierten Pfauenfeder in Weiß, den Blick auf den Text – bis nur ein paar Meter entfernt die gleiche Pfauenfeder zu sehen ist, bloß in echt, blaulila gänzend, und das auf dem Rücken gleich mehrerer Tiere.

Dann auf dem westlichen Uferweg entlang, mit Blick auf das Kavalierhaus weiterlesend – Bänke am Wegesrand gibt es genüge. Weiter ans Ende der etwas mehr als eineinhalb Kilometer langen Insel, zur Meierei, wohin es im Buch auch die Zwergin Marie oft zieht.

Dort zu sitzen, wo ein Fake-Nachbau aus dem Jahr 1794 eine gotische Kloster-Ruine darstellen soll, könnte die weitestmögliche innere Entfernung vom nur 20 Kilometer entfernten Berliner Zentrum darstellen. „Ihren Bewohnern war die Pfaueninsel da wie ein Schiff erschienen, das in einer vergessenen Bucht vor den Toren der Welt ankerte und abwartete“, schreibt Hettche an einer Stelle. Ihren Bewohnern? – Nein, nicht nur ihnen. Stefan Alberti

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