taz-adventskalender: wortwörtlich Berlin
: Zwischen Beletage und Hinterhaus

Waldtraut Lewin: „Ein Haus in Berlin“. Die Trilogie ist 1999 im Ravensburger Buchverlag erschienen und derzeit nur noch antiquarisch zu erwerben

Wer etwas über Berlin lesen will, hat viel Auswahl. Die schönsten Schriftstücke stellt die taz bis Weihnachten täglich vor. Und es geht nicht nur um Bücher!

Seit 1999 wohne ich in einem Gründerzeithaus, es liegt vis-à-vis dem ehemaligen Zentralviehhof am nördlichen Rand Friedrichshains. Die 1999 erschienene Trilogie „Ein Haus in Berlin“ von Waldtraut Lewin (Jahrgang 1937) spielt in einem Gründerzeitbau wie dem meinen.

„Luise, Hinterhof Nord“ ist der erste in der Gründerzeit um 1890 spielende Band betitelt. Die Protagonistin lebt also nicht wie ich in der Beletage, sondern im zweiten Hinterhof und damit unter erbärmlichen Verhältnissen. Doch Luise ist in Bertram verliebt, der mit seiner Familie im Vorderhaus residiert, eben in der Beletage, mit hohen Decken, Stuck, Balkon und Dienerschaft. Luise hat hier mit ihrer Familie auch mal für kurze Zeit gewohnt: nach dem Bau des Hauses zum Trockenwohnen.

Beider Liebe ist überschattet. Da sind zum einen die Klassenschranken. Die Reichen rümpfen die Nase über das ärmliche Pack im Hinterhaus, und die Menschen dort tun das über die hochnäsigen Beletage-Bewohner ebenso. Hinzu kommen antisemitische Ressentiments, denn Bertram entstammt einer Familie jüdischen Glaubens.

Ich habe in dem Buch viel gelernt über das Berlin der Gründerzeit, noch „halb Kuhdorf, halb Stadt“. Wer weiß, vielleicht haben die armen Leute bei uns im Hinterhaus früher auch eine Kuh, wie damals üblich, im Hinterhof gehalten? Und dass auf dem Gelände des Schlachthofs seinerzeit auch Engelmacherinnen ihre Dienste anboten, habe ich bei Lewin erfahren – und das in meine Führung durch den Friedrichshainer Nordkiez für die taz-Reise Berlin eingebaut.

Der zweite Band, „Paulas Katze“, dreht die Geschichte im Jahr 1935 weiter. Nun sind die Mietparteien aus Vorder- und Hinterhaus familiär verbunden und sich erst recht spinnefeind. Das Verschwiegene, Unausgesprochene aber holt die Protagonisten dann doch ein, und zwar auf schmerzhafte Weise. Dieser Teil ist der berührendste Part der Trilogie, weil er beschreibt, wie aus vormals anscheinend ganz normalen Nachbarn menschenverachtende Bestien werden. Neben einem tragischen Freitod gibt es am Ende aber auch ein Hoffnungszeichen.

Worum es dabei geht, ist im Teil des dritten Bandes, „Mauersegler“, der im Oktober und November 1989, also in den Wochen kurz vor und nach dem Mauerfall, spielt, von Relevanz. Ein Ölgemälde spielt ebenso eine Rolle. Denn neben Haus und familiären Banden ist die Kunst das dritte verbindende Element über die Epochen hinweg.

Das Gründerzeithaus ist zur Wendezeit längst nicht mehr das, was es mal war. Das Vorderhaus steht auf der Ostseite der Mauer, eine bloße Fassade, einen Hinterausgang gibt es nicht. Quer- und Seitengebäude zweier Hinterhöfe wurden für Mauerbau und Mauerstreifen abgerissen. Und der Rest des Hinterhauses steht im Westen … „Mauersegler“ nimmt die losen Fäden aus den anderen Zeitebenen der vorangegangenen Büchern gekonnt wieder auf, ohne diese zu einem Ende zu führen. So, als ob es hätte weitergehen können.

Und ich würde liebend gern einen vierten Band von „Ein Haus in Berlin“ lesen, in dem die Geschichte von Haus und Leuten in der Jetztzeit, also in Zeiten von Verdichtung, Verdrängung und Vergangenheitsklitterung à la AfD weitergeführt wird. Doch leider ist das nicht möglich, meine Lieblingsschriftstellerin ist 2017 gestorben.

Andreas Hergeth

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