Rausch im Moment

Gladbach besiegt nach schwacher erster Hälfte doch noch den FC Bayern. Die Bayern wirken weiter flatterhaft und verwundbar

Die Anhänger der Borussia haben einen neuen Liebling: den Doppeltorschützen Ramy Bensebaini im Rausch Foto: reuters

Aus Mönchengladbach Daniel Theweleit

Womöglich war Ramy Bensebaini berauscht von diesem riesengroßen Fußballmoment, den die Menschen im Borussia-Park am späten Samstagnachmittag um zwanzig nach fünf aufsaugen konnten. Gerade hatte Schiedsrichter Marco Fritz einen Elfmeter für Borussia Mönchengladbach gepfiffen, es stand 1:1 im Spiel gegen den FC Bayern, das ganze Stadion schwebte in einem wunderbaren Zustand zwischen Hoffnung, Euphorie und rauschhafter Aufregung. Doch der Mann, der das Werk nun vollenden sollte, hatte vergessen, dass er dafür vorgesehen war, nun endgültig zum Helden zu werden. „Tobias Sippel, unser Torwarttrainer, hat mich daran erinnert, dass ich der Elfmeterschütze bin“, berichtete Bensebaini, der vorher schon das erste Tor für die Borussia geköpft hatte. Also nahm der bislang eher unbekannte Linksverteidiger den Ball und verzückte den Borussia-Park mit einem nahezu perfekt ausgeführten Elfmeter. Und die Anhänger hatten einen neuen Liebling.

Seit der Traditionsverein vom Niederrhein vor acht Wochen an die Spitze der Bundesligatabelle stürmte, wurde ja viel über den dynamischen Angriff, über Marcus Thuram, Breel Embolo und die anderen Offensivleute gesprochen; Bensebaini hat sich zwar auf den Weg gemacht, still und leise den alten Gladbacher Dauerlinksverteidiger Oscar Wendt aus der Stammelf zu verdrängen, zu dicken Schlagzeilen führte dieses kleine Stück im Erfolgspuzzle des Trainers Marco Rose aber nicht. Nun ist der 24 Jahre alte Algerier, der im Spätsommer für 7,5 Millionen Euro von Stade Rennes an den Niederrhein wechselte, zum entscheidenden Spieler geworden. Und es erzählt viel über den Zusammenhang dieser Mannschaft, dass so einem in der Hie­rarchie sicher nicht weit oben angesiedelten Typ in seinem fünften Bundesligaspiel zugetraut wird, in solch einem wichtigen Moment einen Elfmeter zu schießen. „Er ist linker Verteidiger, hat heute zwei Tore gemacht, wir kennen seine Kopfballstärke, wissen, was für einen starken linken Fuß er hat“, sagte Marco Rose später mit demonstrativer Zurückhaltung über den Tageshelden.

Ähnlich dezent äußerte der Trainer sich zu den Träumen von der ersten Mönchengladbacher Meisterschaft seit 1977. „Wir sind ambitioniert, wir wollen Fußballspiele gewinnen, aber die Sache mit der Schale, die lassen wir tatsächlich mal weg jetzt“, sagte er. Dass in so einer Situation ein Spieler wie Bensebaini auftaucht, deutet aber schon darauf hin, dass die Gladbacher vielleicht wirklich den breitesten Kader der Liga haben. Wobei dieses Spiel bei genauer Betrachtung eben auch viele Argumente für den Teil der Fußballnation lieferte, der den Gladbachern den ganz großen Coup nicht zutraut.

Lange Zeit hatte das Spiel des Tabellenführers überhaupt nicht funktioniert. Der Versuch, den Münchner Spielaufbau durch ein hohes Pressing zu stören, scheiterte krachend. Schon Mitte der ersten Hälfte stellte der Trainer von einem System mit Raute auf ein 4-3-3 um, aber auch danach habe sein Team „kaum Zugriff“ bekommen, räumte Rose ein. Die Borussia war diesem Spitzenspiel lange Zeit einfach nicht gewachsen. „Es ist immer ein Unterschied, sich vorzunehmen, gegen den FC Bayern mutig zu sein, oder das dann auch auf den Platz bringen“, erklärte Rose. Die imposante Qualität des Gegners und die für die meisten Spieler ungewohnte Aufladung dieses Spiels mit Erwartungen, historischen Bezügen und Titelfantasien schien das Team völlig zu überfordern. Erst nach Ivan Perisics 0:1 (49.) wurde dieses Topspiel nach und nach zu einem Duell auf Augenhöhe.

Der FC Bayern spielte die eigene Überlegenheit kühl aus, hatte großartige Chancen, aber: die Münchner schossen nur ein Tor. Sein Team habe die Partie fast eine Stunde lang „klar dominiert“, sagte Trainer Hansi Flick später. Doch wie schon gegen Bayer Leverkusen standen sie als eigentlich besseres Team ohne Punkte da, und das ist für den FC Bayern München vielleicht noch schlimmer, als verdient zu verlieren.

Die beiden 1:2-Niederlagen gegen Leverkusen und gegen Mönchengladbach deuten darauf hin, dass die berühmte Bayern-DNA grundsätzlich Schaden genommen hat. „Wichtig ist für uns, dass wir bis zur Winterpause weiterhin guten Fußball spielen, dass wir weiterhin dranbleiben und vielleicht den einen oder anderen Punkt noch reinholen“, sagte Flick mit dünner Stimme. Diese Demut ist sympathisch, zugleich handelt es sich bei dieser Aussage aber um einen Satz, der ganz und gar nicht zum Selbstbild des Rekordmeisters passt. Es hat in München noch nie gereicht „guten Fußball“ zu spielen und „den einen oder andren Punkt“ zu holen. Der Anspruch ist: jedes Spiel gewinnen.

Das Projekt des Hansi Flick und damit seine Chancen, vielleicht doch über den Winter hinaus Cheftrainer zu bleiben, schwinden, nachdem das Team nach der Trennung von Niko Kovac zunächst vier Mal klar gewonnen hatte. „Ich könnte durchdrehen“, sagte Joshua Kimmich, nachdem er wilde Flüche hervorstoßend vom Platz gelaufen war. Denn dieser Tag machte klar, dass die Bayern ihre Wende nach dem Trainerwechsel doch noch nicht geschafft haben. Sie bleiben in dieser Saison flatterhaft und verwundbar und sind plötzlich nur noch Siebter.