Weißer Zauber

Vorauseilender Jahresrückblick 2020: die SPD am Boden, aus „Hansepferd“ wird „Hanseschwein“

Auf dem roten Teppich: Mit einer Fotoausstellung über ehemalige SPD-Bürgermeister im Foyer des Kurt Schumacher-Hauses macht sich die Hamburger SPD nach dem Wahldesaster vom Februar selbst Mut Foto: Lukas Schulze/dpa

Von Alexander Diehl

Januar

Ende der ersten Woche des jungen Jahres dürfen auch die letzten eingelieferten Gäste des Silvesterkonzerts in der Elbphilharmonie aus dem Krankenhaus. Kaum hatte das Philharmonische Staatsorchester (unter Kent Nagano) Sofia Gubaidulinas Else-Lasker-Schüler-Gedichtvertonung „Ein Engel“ (für Alt und Kontrabass) angestimmt, war in Teilen des ausverkauften Saals Unruhe ausgebrochen – umso mehr, je weiter oben gelegen man Plätze ergattert hatte. Auf den notorisch untermarkierten Treppenstufen kamen dann zahlreiche Besucher*innen zu Fall. Vom Fachredakteur des Medienpartners Hamburger Abendblatt befragt, versichert die Intendanz: Sie will sich kümmern.

Februar

Die Bürgerschaftswahl am 23. verläuft unspektakulär, abgesehen von einigen Rangeleien zwischen Anhänger*innen der Partei „Mensch Umwelt Tierschutz“ und denen der „Aktion Partei für Tierschutz – Das Original“; bei der abendlichen Wahlparty (mitsamt Vorführung von „Das Leben des Brian“) vertragen sich alle schon wieder. Nicht eingetreten sind vorab befürchtete Auseinandersetzungen zwischen den gesammelten Tierschützer*innen und der ebenfalls zur Wahl angetretenen „Partei für Gesundheitsforschung“. Diese holt Stimmen ausschließlich in zwei Wahllokalen in Neugraben.

Umso komplizierter sind die Ergebnisse: Klar ist auch Tage später nur, dass die SPD, die das schlechteste Ergebnis seit Kriegsende erzielt hat. Unter den Grünen macht angeblich ein Witz die Runde: „Trau’keinem unter 30!“ Gerechnet wird mit zähen Koalitionsverhandlungen.

März

Aus zwei mach eins: Nach schlechter Auslastung ist die Gastro-Messe „Internorga“ (15.–17.) künftig nur noch „strategisch wichtiger Partner“ der – im April ebenfalls enttäuschenden – Vierbeinerveranstaltung „Hansepferd“. Angeblich von einer Kopenhagener Marken­agentur entwickelter, aber unbestätigter Name: „Hanseschwein“.

April

Der 34. Haspa-Marathon am 19. muss ausfallen: Wegen mehrerer Kreuzfahrtschiffstaufen – bei auflandigem Wind – wären auf weiten Teilen der Strecke die Gefahren für die Läufer*innengesundheit zu groß. Die Idee, die klassische Distanz stattdessen auf der Horner Rennbahn zu absolvieren, wird verworfen.

In der nicht länger Bundesligakriterien genügenden Kegelbahn eines kroatischen Grillrestaurants eröffnet am Abend des 20. das Echt-Deutsch-Theater. Für seine erste Spielzeit setzt das laut eigenen Angaben ohne öffentliche Förderung auskommende Haus auf eine selbst besorgte Bearbeitung von Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“ sowie die Komödie „Irrwege“ des Niederländers Haye van der Heyden.

Mai

Am 34. und letzten Spieltag der laufenden Zweitligasaison müssen auch die treuesten Fans sich eingestehen: Hamburg und guter Fußball, das ist vorbei. Nicht nur steigen weder der HSV noch St. Pauli auf in Liga eins, nach nicht enden wollendem Rechtsstreit um Fan-Pyros und Strafzahlungen lässt die Deutsche Fußball-Liga die Muskeln spielen und pfändet das (inzwischen nach einem Dachfenstergriffhersteller benannte) HSV-Stadion. Und die Profis von St. Pauli? Kehren nicht mehr zurück von einem Trainingslager an der Ardèche: Nach zwei Wochen Achtsamkeitstraining seien den Spielern das knallhart Wettbewerbsmäßige und die in der Branche üblichen toxischen Männlichkeitsvorstellungen fremd geworden.

Die Koalitionsverhandlungen gehen weiter.

Juni

Dauerzankapfel Grundsteuer: NDR 90,3 schickt einen hungrigen Jungreporter zu Andreas Dressel (SPD), um nachzufassen, was eigentlich geworden ist aus dessen Ankündigung aus dem späten Vorjahr: „Bis Ende 2020 weiß jeder, woran er ist.“ Der nunmehr ehemalige Finanzsenator möchte darauf offenbar nicht mehr angesprochen werden und droht, „die Hunde loszulassen“.

Juli

Rund zwei Wochen vor dem Sommerferienende stellt ein patrouillierender Sicherheitsdienstmitarbeiter fest: Das nur rund ein halbes Jahr früher bezogene modulare Klassenhaus der Grundschule Eckerkoppel (Farmsen-Berne) – Kritiker*innen zufolge ohnehin nur ein ungeeigneter „kastenförmiger Massenbau“ – ist weg. Ermittlungen der „Soko Narnia“ laufen ins Leere, die Hamburger Bild-Ausgabe berichtet unbekümmert von osteuropäischen „Profi-Banden“, die da am Werk gewesen seien.

August

Eine Medienstadt wie Hamburg trifft das Sommerloch besonders hart. Unterwegs auf Schlagzeilensuche geht der letzte Reporter der Morgenpost ausgerechnet im autobefreiten Ottensen der „Soko Autoposer“ ins Netz. Der über Jahre des Blaulichteinsatzes seelengegerbte Mann lässt seinen US-Sportwagen stehen und folgt einer lange verleugneten Leidenschaft: Er wird Kunstkritiker.

September

Soll wieder aufgebaut werden – aber wie? Elbphilharmonie, mahnend Foto: Christian Charisius/dpa

Bei den Koalitionsverhandlungen ist kein Ende in Sicht.

Oktober

„Zum ersten Mal seit 20 Jahren“, so die Veranstalter, holt Hamburg wieder eine Konferenz der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) nach Deutschland. Was eine Feier für den Standort werden soll, gerät zum Desaster: US-Präsident Donald Trump droht mit Sanktionen – bei ICANN könne es sich ja nur um eine Gemeinheit seines betrügerischen Amtsvorgängers handeln.

November

Der Zoll deckt in großem Stil Scheinselbstständigkeit auf Weihnachtsmärkten auf. Auch die Kolleg*innen von der Aufputschmittelfahndung werden reichlich fündig unter dem prekär beschäftigten Standpersonal. Interner Name der gemeinsamen Razzia: „Weißer Winterzauber“.

Dezember

Nach langer Debatte verzichtet die Stadt zu Silvester auf ein Böllerverbot. Während die Nacht in der Innenstadt ereignisarm bleibt, führt in der Hafencity Funkenflug zu einem verheerenden Brand – umso überraschender, als die Feuerwehr immer davon ausgegangen war: „Das ist doch alles Beton!“ Wie zur Mahnung ragt rußschwarz die Elbphilharmonie in den Himmel; über die Frage: „Wiederaufbau? Wenn ja, wie?“ zu diskutieren, dienen sich gleich mehrere ehemalige SPD-Bürgermeister bei Hamburgs letzter Lokalzeitung an. Menschen kommen übrigens keine zu Schaden: Die mit „Wohnung“ nur ungenau bezeichneten Anlageobjekte im Stadtteil stehen durchweg leer.

Das traditionelle Silvesterkonzert wird in die Laeiszhalle verlegt. Infolge eines Softwarefehlers werden aber mehr Elphikarten umgetauscht, als es nun Plätze gibt; es folgen Rangeleien und einige leichte Verletzungen. Die Intendanz will sich kümmern.