Lesenswert aus Berlin: der TXL-Flugplan: Anleitung zum Foltern

Vom Alltag am Kurt-Schumacher-Platz: Wir hocken dumm und apathisch rum, fangen Sätze an und beenden sie nicht, da es zu laut ist.​

Ein flugzeug fliegt dicht über den Kurt-Schumacher-Platz in Berlin-WEdding

Booooaaaarrrghhhh: Und wieder landet einer in Tegel. Alltag am Kurt-Schumacher-Platz Foto: dpa

Dieses Machwerk dürfte es gar nicht geben. Eine Anleitung zum Foltern ist es, auf postmoderne Art werden die Leute gequält, Blut spritzt keins.

Also dieses Machwerk: der Flugplan von Tegel. Seit geraumer Zeit wird er nicht mehr gedruckt. Im Netz gibt es ihn drei Tage im Voraus. Da ist aufgelistet, welches Flugzeug den Lärm verursacht, den 250.000 Berliner und Berlinerinnen aushalten müssen.

Heute ist Dienstag, Punkt sechs Uhr fängt es an. Vier Flüge: Brindisi, Krakau, Amsterdam, Lissabon. Und fünf Minuten später: Mailand. In den ersten fünf Minuten fünf Flüge. Und so geht das weiter. Morgens ab sechs Uhr geht es los. Kaum ist einer weg, donnert der nächste heran. 311-mal, bis in die Nacht. Das sind nur die Abflüge. Die Ankunftsflüge kommen dazu. Jeden Tag. Jeden verfickten Tag.

Kürzlich war ein Tag, da flog der letzte ganz offiziell um 23.35 Uhr nach Moskau. Dabei wird behauptet, ab 23 Uhr sei Nachtruhe. Eine Nachtruhe, die man nach der abgesagten Öffnung des BER vor acht Jahren mal großzügig um eine Stunde eindampfte. Vor dem BER-Gau: Nachtruhe ab 22 Uhr. Nach dem BER-Gau: Nachtruhe ab 23 Uhr. Und der Senat hat nie mehr daran gedacht, zurück zur alten Regelung zu gehen. Wozu auch? Wozu brauchen Erwachsene Nachtruhe, wenn man sie den Kindern nicht gönnt? Hätte man die im Blick, wäre spätestens um acht Uhr abends Schluss. Oder?

Dumm am Kurt-Schumacher-Platz

Man hält die Leute rund um TXL (im alten Westberlin) eben für blöd. Und das stimmt ja vermutlich auch. Wir sind blöd. Nachweislich fördert Fluglärm Lernverzögerungen und Depression. Das kommt denen im Senat sehr entgegen. Denn wir hocken dumm und apathisch am Kurt-Schumacher-Platz rum, lassen uns unsere Gedanken zerreißen, fangen Sätze an und beenden sie nicht, da es zu laut ist.

Weil dem so ist, kann der Flughafen TXL auf immer und ewig mit allen möglichen Ausnahmegenehmigung laufen. Wasserrecht, Naturschutz, Flugrouten, Lärm – alles ist Anarchie. Seit zehn Jahren wird den Leuten, der gesetzliche Lärmschutz vorenthalten, ganz legal. Wir erdulden’s. Zieh doch weg, geh doch nach drüben, sagen die Oberschlausten. Denn dass der BER (im Osten der Stadt) am 31. Oktober 2020 eröffnet werden soll, wie letzte Woche verkündet, das glaubt doch kein Mensch.

Jeder, der von TXL abfliegt, ist schweigender Mitläufer dieser Foltermaschinerie. Jeder. Neueste Destination seit Anfang November: von TXL zum Flughafen Münster-Osnabrück. Gebrauchswert: keiner.

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Seit 2002 bei der taz, erst im Lokalteil, jetzt in der Wochentaz. 2005 mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet für die Reportage „Schön ist das nicht“, 2011 wurde die Reportage „Die Extraklasse“  mehrfach prämiert. 2021 erschien ihr Roman "Brombeerkind" im Ulrike Helmer Verlag. Es ist ein Hoffnungsroman. Mehr unter: www.waltraud-schwab.de . Auch auf Twitter. Und auf Instagram unter: wa_wab.un_art

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