Debatte um Dienstpflicht: Die Pflicht als Freiheit

Die Idee eines verpflichtenden sozialen Jahres empfinden viele als Zumutung. Dabei könnte es wie Kitt in einer gespaltenen Gesellschaft wirken.

Pfleger hat Patient untergehakt, Ansicht von hinten

War nicht freiwillig, aber horizonterweiternd: Zivildienst in einem Klinikum, 2009 Foto: ap/Thomas Kienzle

Annegret Kramp-Karrenbauers Idee, eine Dienstpflicht einzuführen, ruft wütenden Widerspruch hervor. Pflichtdienste seien „vergangenes Jahrhundert“, kritisierte der Linke Dietmar Bartsch. Er bekam ausgerechnet Zustimmung von FDP-Chef Christian Lindner, der „Freiheitsentzug und eine Verschwendung von Lebenszeit“ geißelte. In sozialen Netzwerken tobte ein Shitstorm gegen den vermeintlichen Zwangsdienst.

Interessant ist, dass die Idee der CDU-Chefin auch von jenen verdammt wird, die darüber klagen, dass die Gesellschaft auseinanderdrifte, dass sich die Mittelschicht nach unten abgrenze, dass das Verständnis für alles jenseits der eigenen Blase schwinde. Solche Tendenzen zu problematisieren, aber gegen ein soziales Jahr zu sein, passt schlecht zusammen. Eine Dienstpflicht brächte junge Leute dazu, etwas fürs Gemeinwohl zu tun.

Sie könnten sich in Naturschutzgebieten, Krankenhäusern oder Pflegeheimen engagieren – und dort andere Lebenswelten kennenlernen. Die Welten alter oder kranker Menschen, von Menschen mit Behinderungen, von Leuten also, die gewöhnlich am Rand stehen. Ein soziales Jahr, ordentlich bezahlt und klug organisiert, kann wie Kitt in einer fragmentierten Gesellschaft wirken. Weil es Wissen vermittelt, Verständnis füreinander weckt und Leute zusammenbringt, die sonst nie zusammenkämen.

Bevor jetzt der Verdacht aufkommt, da erzähle ein mittelalter Typ der jungen Generation, was sie zu tun habe („Okay, Boomer!“): Ich habe meinen Zivildienst als Krankenwagenfahrer und Fahrer für Menschen mit Behinderungen Mitte der 90er beim Malteser Hilfsdienst geleistet. Diese 15 Monate waren eine in jeder Hinsicht wertvolle Erfahrung.

Warum soll das eine Zumutung sein?

Ich trug gebrechliche, alte Damen und Herren Treppen hinunter, hielt auf dem Weg ins Krankenhaus viele Hände, hörte Geschichten über Einsamkeit und Verzweiflung und wischte auch mal Erbrochenes auf. Oder ich lachte mich mit den coolen Typen kaputt, die ich frühmorgens abholte und zu ihrer Arbeitsstätte fuhr. Und die nun mal zufällig mit einer geistigen Behinderung im Rollstuhl saßen. Mein Horizont wurde erweitert, radikaler, als es bei jedem Interrail-Selbstfindungstrip der Fall gewesen wäre.

Sollte man als Linker nicht dankbar sein, dass sich eine Konservative mit solchen Ideen profiliert?

Ob ich den Zivildienst freiwillig angetreten hätte? Nein, wahrscheinlich nicht. Beliebt war der Dienst nicht bei jenen, denen er bevorstand. Wie die meisten meiner Kollegen hätte ich lieber die Gelegenheit genutzt, früher studieren zu gehen/die Lehre konsequenter durchzuziehen/durch die Welt zu reisen. Im Nachhinein sehe ich es anders.

Lässt sich eine Pflicht, Gutes zu tun, mit dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen vereinbaren? Es gebe ja bereits die Möglichkeit, freiwillig ein soziales Jahr zu leisten, betonen die KritikerInnen. Das stimmt, der Bundesfreiwilligendienst funktioniert, auch wenn er viel mehr offene Stellen als NachfragerInnen registriert.

Erlaubt sei aber eine Gegenfrage: Warum wird eine Pflicht als solche Zumutung empfunden? Kinder werden heutzutage von klein auf in einen neoliberalen Wettbewerb gehetzt. Frühbildung in der Kita, Englisch in der Grundschule, G8 und Bachelor im Sauseschritt. Alles zielt darauf, dem Markt schnell Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen.

Wertschätzung für andere Lebensentwürfe

Unsere Gesellschaft gibt sehr viel auf persönliche Freiheit. Aber sie gesteht sich nicht ein, welch unerbittliche Pflicht dahintersteckt, nämlich die der kapitalismuskonformen Selbstoptimierung.

Ein soziales Jahr wäre eine Pause im Rattenrennen. Eine verordnete Pause, ja, aber eine bereichernde. In einer Instagram-Gesellschaft, in der lässig performte Perfektion die Norm zu werden droht, also ein perverser Gruppendruck herrscht, können Pflichten etwas Entlastendes sein. Zu wissen, dass man ein Jahr lang entspannt etwas Sinnvolles tun kann, das kann man als Zwang verstehen. Oder als Erleichterung. Pflichten können auch ein Freiheitsgewinn sein.

Wertschätzung für andere Lebensentwürfe ist eine nötige Voraussetzung für ein gedeihliches Miteinander. Erfolgreiche Menschen, die sich daran erinnern, dass es Hilfsbedürftige gibt, gehen pfleglicher miteinander um. Damals beim Malteser Hilfsdienst waren alle sozialen Schichten vertreten: Der Abiturient arbeitete mit dem Hauptschüler, der künftige Soziologiestudent mit dem künftigen Handwerker. Wir haben gelernt, dass auch Leute ganz anderer Herkunft klug, freundlich und lustig sein können. Oder, anders herum, dass beim Arschlochsein der Schulabschluss keine Rolle spielt.

Ist das nun „vergangenes Jahrhundert“, wie Dietmar Bartsch meint? Sicher, die Hürden im Grundgesetz für eine solche Dienstpflicht sind hoch, zu Recht. Kramp-Karrenbauers Vorschlag müsste tiefgehender diskutiert werden, sie hat ja nicht mehr als einen Denkanstoß geliefert. Auch ist eine Mehrheit für eine Grundgesetzänderung nicht in Sicht.

Blick über den Tellerrand für alle

Aber die Vorstellung, der Staat dürfe den BürgerInnen keine Pflichten auferlegen, ist realitätsfremd. Selbstverständlich kann eine demokratische Mehrheit Einzelne zu etwas verpflichten, wenn sie es als sinnvoll erachtet. Beim Thema Steuern verlässt sich der Staat auch nicht auf das Goodwill-Prinzip, auch wenn Superreiche gerne argumentieren, sie spendeten ja schon genug Geld.

Und die Erhöhung des Renteneintritts­alters auf 67 Jahre war nichts anderes als die Pflicht, länger zu arbeiten. Wo war damals der Protest von Christian Lindner?

Eine Dienstpflicht hätte nicht zuletzt egalitären Charakter. Bisher gönnen sich die Jugendlichen, die es sich leisten können, ein Jahr zur Selbstfindung nach der Schulzeit. In der gut verdienenden Mittelschicht ist es gang und gäbe, den Nachwuchs ein Jahr ins Ausland zu schicken.

Eine Dienstpflicht wäre der Blick über den Tellerrand für alle. Sollte man als Linker nicht dankbar sein, dass sich eine Konservative mit solchen Ideen profiliert, statt über Abschiebungen von Geflüchteten zu sinnieren?

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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