Machtkampf in Bolivien: Wer tötete in El Alto?

Mindestens sieben Menschen wurden in El Alto erschossen. Nicht von Soldaten, sagt Boliviens Verteidigungs­minister. Augenzeugen sahen etwas anderes.

Indigene Frauen stehen zusammen auf einer Trauerfeier

Trauerfeier für die Toten vom 19. November in El Alto Foto: Katharina Wojczenko

EL ALTO taz | Es sind Tausende, die sich am Mittwoch in El Alto versammelt haben, um ihre Toten zu betrauern. Mindestens sieben Menschen sind hier am Dienstag ums Leben gekommen, und für die Trauergesellschaft ist klar, wer am Tod ihrer Brüder schuld ist: Eine Puppe mit Präsidentenschärpe baumelt samt Stöckelschuhen an einem Strick von der Brücke. Boliviens De-facto-Präsidentin Jeanine Áñez ist gemeint. „Mörderin“ steht darauf.

In der sengenden Sonne auf und unterhalb der Brücke drängen sich so viele Trauergäste, dass der Mann am Mikrofon mehrfach wegen Einsturzgefahr um Abstand bittet. Drei der Toten liegen in den Särgen inmitten der Menschenmenge unter der indigenen Wiphala-Fahne und Blumen. „Justicia!“, rufen die Menschen immer wieder im Chor, Gerechtigkeit. „Sie soll zurücktreten, verdammt!“ Gemeint ist Añez.

Vor allem das Dekret, mit dem sie Polizei und Militär Straffreiheit bei der Repression zusichert, bringt die Menschen in Rage. „Ich will, dass sie dieses Dekret zurücknimmt, mit dem sie uns Bolivianer alle töten will. Erst uns Arme, danach ihre eigene Klasse. Wartet es nicht ab. Wir werden viel Geld für die Militärs ausgeben, damit sie uns Bolivianer erschießen“, schreit eine Demonstrantin.

Aus dem ganzen Land sind sie angereist, um den Toten die letzte Ehre zu erweisen. Es sind fast ausschließlich Menschen mit dunkler Haut, die Frauen tragen Polleras, die traditionellen bunten Röcke der indigenen Frauen. Sie haben Standarten mitgebracht, an die zum Zeichen der Trauer schwarze Plastiktüten geknotet sind.

„Die Soldaten schossen“

Sie sind überzeugt, dass Verteidigungsminister Fernando López lügt. Dieser behauptet immer noch, dass bei der gemeinsamen Operation von Militär und Polizei am Dienstag „kein einziges Projektil“ die Waffen verlassen habe. In El Alto reicht eine der Mütter Patronenhülsen über den Sarg an ausländische Journalisten, zum Beweis des Gegenteils.

Augenzeugin zur taz

Aus zwei Hubschraubern „warfen sie Gas und schossen“

Am Dienstagmorgen wollten Militär und Polizei aus der Treibstoffanlage Senkata in 50 Zisternen Treibstoff für La Paz holen. Die Anlage in der Nachbarstadt El Alto versorgt sie normalerweise mit Treibstoff. Doch seit Tagen hatten Einheimische sie blockiert, um die Übergangsregierung unter Druck zu setzen.

Die autobahnartige schnurgerade Straße Avenida 6 de marzo ist übersät mit Steinbrocken, Stacheldraht, Metallschrott, Scherben. Tiefe Gräben sollten verhindern, dass Tankwagen passieren. Laut Verteidigungsminister López erhielten die Demonstrierenden „Befehle, Alkohol und Koka, damit sie Vandalismus betreiben“ und Angst und Schrecken verbreiteten. Sie hätten Sprengstoff gehabt. Er nennt sie Terroristen.

Eine Frau, die in einer Organisation in der Nachbarschaft arbeitet, schildert es hingegen so: Um 10 Uhr morgens hätten die Nachbarn um Verstärkung an der Blockade gebeten, weil Soldaten und Polizei kämen, um Brennstoff aus der Anlage zu holen. Die Leute seien aus verschiedenen Richtungen herbeigekommen, sagt die Frau, die aus Angst anonym bleiben will. „Die Polizisten beschossen uns brutal mit Tränengas.“

„Wir hatten, wenn überhaupt, nur Stöcke und Steine“

Daraufhin hätten sich die Menschen vor die Anlage gestellt, sie seien wütend geworden. „Die Soldaten begannen, mit Schrot- und Gewehrkugeln zu schießen. Dann kamen zwei Hubschrauber. Daraus warfen sie Gas und schossen.“ Das sei auf Höhe des Eingangs zu der Anlage passiert.

Daraufhin brachten die Demonstrierenden weiter unten eine Mauer zum Einsturz. „Da kamen die Soldaten von drinnen heraus und schossen ebenfalls. Der Minister spricht von Konfrontation, aber wir hatten, wenn überhaupt, nur Stöcke und Steine.“

Dass aus Hubschraubern auf die Menschen geschossen wurde, berichteten mehrere Zeugen vor Ort der taz. Was passiert ist, nennen sie nicht „Operation“, sondern „Massaker“. Die Zeitung La Razón zitiert in der Donnerstagausgabe David Inca von der Ständigen Versammlung für Menschenrechte, dass die Schüsse aus der Treibstoffanlage gekommen seien, wo die Soldaten postiert waren.

Die Betonelemente zwischen den Gegenfahrbahnen der Avenida sind übersät mit Einschusslöchern. Die Anwohner*innen haben mit Kreide Kreise um sie gezogen. Blutspuren sind auch in der zweiten Häuserreihe zu sehen, wo Kugeln Einschusslöcher an Metalltoren und Fassaden hinterlassen haben.

Vor einer Bankfiliale mit mehreren Einschusslöchern direkt an der Avenida sind Spuren einer großen Blutlache und Tränengaskartuschen zu sehen. Hier soll ein Mann erschossen worden sein. „Hier müssten Überwachungskameras sein, aber sie sind entfernt worden“, sagen Einheimische. Am Tag danach gehen sie selbst herum und dokumentieren mit der Handykamera.

Das Forensische Institut (IDIF) spricht in einem ersten Report davon, dass zwei Menschen durch Projektile starben, die laut den Vorschriften nicht von Polizei und Armee verwendet werden. „Diese kurzen Schusswaffen könnte jeder haben“, sagte der nationale IDIF-Direktor Andrés Flores.

Am Donnerstag beschoss die Polizei in La Paz Demonstrierende, die mit fünf Särgen von El Alto ins Stadtzentrum zogen, mit Tränengas. Übergangspräsidentin Jeanine Áñez bedauerte in einer Erklärung „von ganzem Herzen“ die Todesopfer und bat die Bolivianer*innen um Einigkeit. Ihr Kabinett sei sofort zum Dialog bereit.

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