Der Hausbesuch: Stimme gegen die Grausamkeit

Binta Fatty aus Gambia wird als Kind beschnitten und später zwangsverheiratet. Heute lebt sie in Berlin und engagiert sich für Frauenrechte.

Eine Frau im Garten

In Europa begreift Binta Fatty, was man ihr angetan hat Foto: Stefanie Loos

Binta Fattys Leben hat viele Facetten. Manche sind grausam. Die hätten sie stark gemacht, sagt die 32 Jahre alte Frau. Binta Fatty wuchs in Gambia auf, erlebte in Polen ihre Befreiung und wohnt jetzt in Berlin.

Draußen: Das mehrgeschossige Haus liegt versteckt hinter einem Wohnblock mit Kindergarten, Pflegeheim und Spielplatz im Norden von Berlin, weit weg von der U-Bahn. „Wenn ich ein Taxi rufe, sag ich denen einen Treffpunkt, damit die mich überhaupt finden“, sagt sie und lacht.

Drinnen: Die Zweizimmerwohnung ist im Erdgeschoss, sie hat Fußbodenheizung und einen kleinen Garten hinterm Wohnzimmer. Überall liegen Spielsachen der vierjährigen Tochter, hängen Fotos ihrer Familie, stehen Skulpturen ihres belgischen Mannes. Der pendelt zwischen Berlin und Polen, wo er arbeitet. Ein riesiger Bildschirm hängt an einer Wand. Musikvideos von ihrer Lieblingsband O Boy and Gambian Child laufen. Lieder in ihrer Muttersprache Mandinka werden gesungen. Das Szenario in den Videos ist farbenfroh. Frauen, die traditionell gekleidet sind und sich mit Tüchern und Perücken gestylt haben, tanzen mit den Männern.

Glatte Haare: Binta Fatty trägt auch eine Perücke, weil sie lange Haare mag, ihre eigenen aber kurz und kraus sind. „Viele Schwarze Frauen tragen Perücke.“ Sie posiert für die Fotografin, während sie es sagt. Westafrikanische Herkunft und glatte Haare, das sei für viele Frauen wie ein Spiel mit unterschiedlichen Kulturen. „So bringt man, was sich fremd ist, zusammen.“ Eine Voraussetzung dafür sei Neugier, sagt sie.

Neugierig sein: Sie ist vier Jahre alt, als sie sieht, dass ältere Kinder etwas bekommen, was sie nicht hat: jeden Freitag Milch, Brot und Süßigkeiten in der Dorfschule. Das will sie auch. Sie geht zum Schuldirektor und sagt, dass sie in die Schule wolle. Und der Direktor antwortet: „Okay.“ „Ich habe mich selbst eingeschult, obwohl ich noch so jung war.“

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In der Stadt: Als sie sieben ist, zieht ihre Mutter mit ihr in die Stadt Brikama, um dort als Verkäuferin zu arbeiten. Die Familienstrukturen sind komplex. Der Vater lebt in Italien, aber da in ihrer Volksgruppe, den Mandinkas, innerhalb der Familie geheiratet wird, ist ohnehin überall Familie. „Wir haben verschiedene Lebensstile angenommen“, sagt sie, „aber alte Traditionen dabei mitgenommen.“

Traditionen: Es gebe, sagt Binta Fatty, gute Traditionen, solche, die die Gemeinschaft stärken. Taufen und Hochzeiten findet sie gut. Aber es gebe auch schlechte Traditionen: „Kinderehen, Genitalverstümmelung, Zwangsheirat“, zählt sie auf. Auch absichtlich herbeigeführte Vernarbungen gehörten dazu. Mehrere dieser schlechten Traditionen werden in ihrer Kindheit zu Fallen für sie.

Trauma: Sie ist sieben Jahre alt und sie denkt, es sei ein Fest für die Mädchen. Süßigkeiten werden versprochen, Musik, Tanz, neue, wunderbare Kleidung. Natürlich will sie das. Andere wollen es auch. Man müsse das machen, ohne sei man nicht sauber, ohne kriege man keinen Mann, wird ihr gesagt. „Deine Mutter hat das auch“, sagen sie. Sie fahren zurück ins Dorf. An einer Stelle ist das Fest, dann werden die Mädchen weggeführt in die Schule, eine nach der anderen. Dort wird sie von fünf Leuten festgehalten, eine Beschneiderin schneidet ihr die Klitoris ab. Ein Schmerz durchfährt sie, so groß, bis heute steckt er ihr im Hals, sie will schreien. „Was die Beschneiderin genommen hat, ein Messer, eine Rasierklinge, ich weiß es nicht.“

Vergiftetes Fest: Binta Fatty kann heute darüber sprechen, und sie benennt es auch sofort: „Mir wurde Gewalt angetan.“ Nach der Beschneidung werden die Mädchen in einen Raum gebracht und bleiben dort, bis die Wunden, die mit traditionellen Heilkräutern versorgt werden, einigermaßen verheilt sind. Fatty will tagelang nicht aufs Klo, will nicht pinkeln vor Schmerz. Ein Mädchen sei fast gestorben, sagt sie. Drei Monate dauert es, bis es wieder gesund ist. Erst danach wird das Fest zu Ende gefeiert. Für Fatty ist das alles nur noch Betrug. Als später jemand sieht, dass ihre Klitoris nicht ganz weggeschnitten ist und ihr sagt, sie müsse noch mal zur Beschneidung, wehrt sie sich: „No way.“

Nicht die einzige Falle: Binta Fatty geht ein paar Jahre weiter zur Schule. Als sie – sie ist in der neunten Klasse und 14 Jahre alt – eines Tages vom Unterricht zurückkommt, sitzen viele Leute im Haus. „Was ist los?“, fragt sie. „Du bist verheiratet“, antwortet ihre Mutter. Fatty weiß nicht, mit wem, es ist ein Mann, der im Ausland lebt, sie weiß nicht wann, wo und warum sie geheiratet hat. Sie heult ein wenig, muss aber gehorchen. „Als Frau hatte ich keine Stimme.“ Auch ihre Mutter kann nichts machen. „Es ist ja alles Familie, wir sind mit allen verwandt.“

Verheiratet wider Willen: Erst mal bleibt alles noch beim Alten, sie geht weiter zur Schule. „Aber es kommt der Tag, an dem du ins Haus der Familie deines Mannes musst.“ Und dann? Sie wickeln sie in ein weißes Laken, damit sie das Blut sehen. „Er sagte: ‚Mach deine Beine auseinander, wenn nicht, mach ich es mit Gewalt.‘“ Für sie war das so oder so Vergewaltigung.

Die Schule: Eines hat niemand Binta Fatty nehmen können: Dass sie lernen und zur Schule gehen will, und sie geht. Ihr Mann ist wieder im Ausland und sie schwanger. Manchmal schickt er Geld, sie nimmt es für die Schule. Im neunten Monat macht sie den Mittelschulabschluss, zwei Monate nach der Geburt geht sie zum Gymnasium. Das Kind, ein Junge, bleibt bei ihrer Mutter, ab und zu nimmt sie ihn mit in die Schule. Manchmal macht man sich über sie lustig, weil ihr Milch aus den Brüsten tropft und das Shirt ganz nass ist.

Das Studium: Nach dem Abitur belegt sie Kurse in Internationalem Wirtschaftsmanagement. „Ich erzählte niemandem mehr, dass ich ein Kind habe.“ Ein Dozent schlägt ihr vor, an einem Studienprogramm in Polen teilzunehmen. Sie fragt ihren Mann, der sagt ja, „wahrscheinlich weil er dachte, ich bekomme sowieso kein Visum“. Aber sie bekommt eines, sagt, sie gehe, er sagt, sie müsse sich entscheiden, er oder das Studium, sie sagt, das Studium, er sagt, dann sind wir geschieden, sie sagt, umso besser. Sie geht, ihr Sohn bleibt.

Alles ganz anders: Sie habe, bis sie in Polen ankam, immer gedacht, sie fahre nach Holland. „Poland, Holland – sie sagten es auf Englisch – für mich klang das gleich.“ Außerdem dachte sie, bis sie in Polen war, dass alle Frauen auf der Welt beschnitten sind. In einem Empowerment-Programm, wo sie lernt, wie sie Menschenrechtsaktivistin wird, begreift sie, dass das nicht stimmt. „Der Kulturschock in Polen war für mich Empowerment“, sagt sie. „Da habe ich kapiert, was die mir angetan haben. Was sie Kindern antun. Polen ist kalt, aber ich vergaß die Kälte. Genitalverstümmelung ist nicht normal, Kinderehen sind nicht normal. Schwanger so jung. Polen hat mir eine Stimme gegeben, und ich konnte nach Gambia zurückgehen und fragen, warum?“

Neue Liebe: In Polen schließt sie nicht nur die Uni ab und macht noch ein Diplom in Internationaler Diplomatie. Sie lernt auch ihren jetzigen Mann kennen, wird schwanger, dieses Mal, weil sie es will, zieht nach Berlin. Sie will, dass das Kind in einer multikulturelleren Umgebung aufwächst. „Meine Tochter ist wie mein erstes Kind. Ich musste alles lernen. Sie ist jetzt vier. Wir müssen unsere Töchter schützen.“

Botschafterin sein: „Als ich jung war, wollte ich immer Botschafterin sein“, erzählt sie. Jetzt ist sie eine. Sie ist Aktivistin für Frauen- und Menschenrechte, arbeitet für Terre des Femmes. Sie reist nach Gambia, fährt in Dörfer, geht in Schulen, spricht mit Müttern, klärt auf, welche schlimmen Folgen Genitalverstümmelung, Kinder- und Zwangsehen haben: Schmerzen ein Leben lang. Physische und seelische. „In Gambia ist Genitalverstümmelung seit 2015 verboten, aber es passiert, in traditionellen Zusammenhängen passiert es oft.“

Immer weiter: Binta Fatty hat mehrere Auszeichnungen bekommen für ihr Engagement. In Gambia hat sie aber auch Ärger gekriegt deshalb. Mit ihrer westlichen Bildung sei sie gehirngewaschen, werde ihr gesagt. Die Probleme seien erst da, seit sie im Westen lebe. Man spreche über sie. Sie lässt sich nicht beirren. Ihren Kritikern sagt sie: „You people can not stop me.“

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