„Überwindung der Angst ist dringend geboten“

Martin Raabe, Pastor im Ruhestand und Sprecher des Bündnisses „Beherzt“, über seine völkischen Nachbarn im niedersächsischen Landkreis Uelzen

Martin Raabe

Foto: privat

Pastor i. R., Jahrgang 1949, Seemanns­pastor in Skandinavien, im Mittelmeerraum und in Fernost. Seit Jahrzehnten ehrenamtlich geschäftsführender Vorstand einer Einrichtung für mehrfach schwerstbehinderte Menschen. Lebt seit 35 Jahren mit Familie in Altenebstorf.

Interview Andreas Speit

taz: Herr Raabe, in Ihrer Nähe wohnen bekannte rechte Familien. Treffen Sie die betreffenden Personen im Alltag oft?

Martin Raabe: Sie sind Mitbewohner*innen im Dorf, man trifft sich – wie alle anderen auch. Der Umgang ist sehr unterschiedlich und hängt auch vom Ort ab, wo man sich begegnet. Auf der Straße oder im Geschäft ist eine Distanz möglich, im Kindergarten, in der Schule, im Elternbeirat ist diese Distanz aufgehoben. Ganz alltäglich ist man mit seinen völkischen Nachbarn konfrontiert.

Wie begegnen Sie sich? Sagen Sie freundlich „Guten Tag“, werden Sie gegrüßt?

Ein „Hallo“ oder „Guten Tag“ ist nicht die Hauptschwierigkeit. Ich muss mir aber überlegen, ob ich einen offensichtlich völkischen Handwerker mit einer Reparatur beauftrage oder ob ich meine ärztlich verordnete Therapie bei dem als völkisch eingestellten Therapeuten durchführe. Oder ich bin damit konfrontiert, dass der Lehrer meiner Kinder oder Enkel bei einer rechtsradikalen Demonstration in Dresden mitmarschiert.

Die Familien leben nicht erst seit gestern im Landkreis Uelzen. Hat sich der Umgang in Laufe der Zeit verändert?

Vieles lief in diesen Kreisen kaum beachtet – oder besser nicht ernst genommen, versteckt, ja geheim ab. Rechte Zeichen aus der Nazizeit waren zwar offen angebracht an Häusern oder auf Findlingen am Hofeingang, aber es wurde lange nicht darauf reagiert. Die Folge: Vieles bisher Unsagbare, weil Unsägliche, wurde plötzlich gesellschaftsfähig. Und so erleben wir Treffen auf Höfen in unseren Dörfern von völkischen Familien, die extrem rechte Bekannte einladen. Es waren größere Veranstaltung vermeintlich privater Art, die hoch politisch waren, da dort Personen aus dem heterogenen Milieu ganz harmonisch zusammenkamen.

Warum suchen Sie die öffentliche Auseinandersetzung?

Die völkisch geprägte Gesinnung mit ihrer „Blut-und-Boden-Ideologie“, mit den Vorstellungen von elitären Gruppen und der Ausgrenzung von allen anderen darf in unserer offenen Gesellschaft keinen Raum gewinnen. Mit dieser Gesinnung würden wir unsere Zivilisation, alles an Entwicklung der Aufklärung bis hin zu wissenschaftlichen Erkenntnissen in den Orkus treten. Diese Gesinnung verhindert jegliche weiterführende Auseinandersetzung mit all unseren Zukunftsfragen und appelliert an primitivste uralte Instinkte. Der Klimawandel, dessen Leugnung aus dieser Szene kommt, ist das aktuellste Beispiel.

In ländlichen Regionen sind die Menschen, anders als in städtischen Räumen, miteinander verbunden: Verein, Fahrgemeinschaften für die Kinder, Dorffeste. Sagen da nicht auch viele Unbeteiligte: „Lasst die doch einfach machen, wen stört, was hinter dem Gartenzaun passiert?“

Wir machen zwei sehr unterschiedliche Erfahrungen: Ein großer Teil der Menschen im Dorf scheut nicht zuletzt auf Grund der räumlichen Nähe die Auseinandersetzung mit den Nachbarn. Das geht hin bis zum Vorwurf des Nestbeschmutzers mit der Folge, das altgewachsene Strukturen aufbrechen und Nachbarn nicht mehr miteinander reden oder feiern. In die entstehende Lücke hinein bieten die völkischen Nachbarn – auch zugezogene Familien – an, die Gestaltung und Durchführung von Festlichkeiten in ihre Hand zu nehmen. Für mich persönlich ist die Überwindung der ausgesprochenen, mehr noch der unausgesprochenen Angst vor dem Wirken dieser völkischen Menschen in unsere Dörfer hinein dringend geboten. Denn diese Angst zerstört jede Form von Zusammenleben.

Wer engagiert sich bei Ihnen?

Dies Gruppe besteht seit November 2018. Wir sind ein Zusammenschluss von Menschen aus dem Landkreis Uelzen, die in irgendeiner Form mit „Völkischen“ in Kontakt kommen.

Werden Sie oder die Gruppe angefeindet?

Auf unsere öffentlichen Auftritte auf Festivals, auf Demonstrationen, bei Lesungen und in Schulen hin erfolgt fast regelmäßig eine Berichterstattung in der lokalen Presse. Die Leserreaktionen gehen von Unverständnis – „Das sind so nette Nachbarn, das Mädchen macht sogar einen Knicks“ – über Kommentare zu „den Alt-68ern“. Hassposts sind auch schon erfolgt. Eines unser gelb-pinken Kreuze wurde zum Hakenkreuz umgestaltet, einzelne Kreuze wurden mit Kot beschmiert.

Welche Intention hat Ihre Aktion der Kreuze?

Mit dem Kreuz, das wir an unseren Hof- oder Hauseinfahrten aufstellen, sagen wir öffentlich und deutlich, dass rechtes Gedankengut an diesem Ort keinen Platz hat. Dass wir unsere Perspektive von Freiheit in Vielfalt in einem demokratischen Rechtsstaat umsetzen wollen und verteidigen. Das fordert auf einem kleinen Dorf durchaus Mut und macht auch Angst. Denn damit fordern wir natürlich auch andere auf, sich zu positionieren. Es ist ein schwieriger Prozess.