Isolde Charim
Knapp überm Boulevard
: Den Solidarraum
neu verhandeln

Der scheinbar unaufhaltsame Absturz der Sozialdemokratie findet ja nicht nur in Österreich statt. In den ebenso hitzigen wie hilflosen Debatten wird dieser hierzulande immer an einem Thema festgemacht. Der wunde Punkt sei die Frage: Wie hast du’s mit der Integration? Der gängige Vorwurf lautet, die Sozialdemokratie hätten zum Thema Flüchtlinge, Migration und Integration nicht die Antworten gefunden, die die Wähler erwarten. Welche Antworten das wären, wissen Kritiker meist auch anzugeben: nicht nett über Vielfalt plaudern, sondern die Skepsis gegenüber Ausländern aufheben und beinhart Missstände ansprechen, Fehlentwicklungen benennen.

Also benennen wir mal: Parallelgesellschaften. Gettobildungen. Kriminalität, besonders gegen Frauen. Kinderbanden in öffentlichen Parkanlagen. All das gibt es. Wer würde das leugnen? Es stellt sich aber die Frage: Was ist damit gewonnen? Dient die Forderung nach Benennung der Probleme zu deren Lösung (eine Lösung, die keiner in der Tasche hat) – oder dient sie nicht vielmehr gerade dazu, die Skepsis gegenüber Ausländern aufzuheben. Im Sinne von bewahren. Nicht im Sinne von auflösen.

Es ist ja nicht so, dass die Probleme der Pluralisierung nicht genügend angesprochen, aufgezählt, beschworen werden. Daran mangelt es wahrlich nicht. Viel entscheidender ist die Frage: Woher rührt all das? Aus kulturellen Genen, religiösen Verhaftungen, familiärer Übermacht, sozialer Bedrängnis, gesellschaftlicher Perspektivlosigkeit, bildungsmäßiger Vernachlässigung? Anders gesagt: Sind das Beharrungskräfte, gegen die man nicht ankommt, oder kann man daran etwas ändern?

Und hier beginnt das tatsächliche Dilemma einer linken Politik, die ihren Namen verdient. Deren drei Säulen – Organisation, Repräsentation, Bildung – beruhen alle auf einem Konzept von Solidarität. In ihrer bisherigen Form war dies eine Solidarität unter Gleichen und Ähnlichen. Das heißt unter solchen, die sich als Gleiche von der ökonomischen Lage her und als Ähnliche von den kulturellen Bestimmungen her verstanden haben.

Unter den Voraussetzungen eines relativ homogenen Nationalstaats war dies eine progressive Solidarität. Der Soziologe Armin Nassehi meint nun, dieser Solidarraum der Nationalstaaten habe von einer stillschweigenden ­Voraussetzung gelebt: Er habe das „latent rechte“ Problem der Zugehörigkeit – also wer gehört dazu und wer nicht – gelöst. Hat also diese „rechte“ Lösung jene sozialdemokratische Politik erst möglich gemacht, die die Erfolgsgeschichte der Nachkriegszeit bestimmt hat? Das wäre die paradoxe Situation, dass linke Politik auf den Schultern einer unsichtbaren „rechten“ Vorgabe gemacht wurde. Tatsächlich musste der Sozialstaat durchgesetzt, errungen, erkämpft werden. Aber die Frage, wem diese Errungenschaften zugute kommen, hat sich danach in der Tat nicht gestellt. Das Grundprinzip der alten Solidarität – das kein „hehres Prinzip“ ist, sondern eine Praxis mit ganz realen Formen der Institutionalisierung – hat sich auf einen ebensolchen geregelten Solidarraum bezogen.

Diesen unhinterfragten Solidarraum gibt es heute nicht mehr. Heute muss die Frage der Zugehörigkeit explizit verhandelt werden. Heute muss verhandelt werden, wer Teil des Solidarraums ist – und wer nicht. Heute müssen die Kriterien für die Zugehörigkeit neu definiert werden. Heute muss Solidarität neu definiert werden. Das Problem einer möglichen linken Politik besteht nicht im Benennen oder im Verschweigen. Es geht viel tiefer. Linke Politik muss auf neue Füße gestellt werden, die nicht mehr auf rechten Schultern stehen.

In einer Situation, wo Rechte auf alte Konzepte des Solidarraums und auf alte Konzepte von Solidarität setzen – in so einer Situation geht es nicht um simple Kommunikationsregelungen. Da bedarf es neuer Konzepte von Solidarität: eine Solidarität zwischen Nichtgleichen, zwischen Nichtähnlichen. Diese muss neu verhandelt werden – in emotionaler, institutioneller und politischer Hinsicht. Das aber heißt nichts anderes als: Gesellschaft neu ­denken.

Isolde Charim lebt als freie Publizistin in Wien.