Augenzeugenbericht aus Hongkong: Universitäten wie Schlachtfelder

Der Dramatiker und Autor Pat To Yan erlebt die Kämpfe zwischen Oppositionellen und der Polizei hautnah. Hier schildert er seine Eindrücke.

Ein Demonstrant mit hochgezogener Atem- und Augenmaske zwischen Regenschirmen

Schauplatz der Auseinandersetzung: die Polytechnische Universität Hongkong Foto: Anthony Wallace/afp

Wer in Hongkong plant, spontan ein Theater zu besuchen oder ein Konzert, weiß gerade nicht, ob er es rechtzeitig bis zum Beginn der Vorstellung schafft. Praktisch alle Veranstaltungssäle sind im Besitz der Regierung. Falls die U-Bahn-Betreiber MTR ihren Betrieb vorzeitig einstellen – was momentan des Öfteren geschieht –, werden automatisch alle kulturellen Veranstaltungen abgesagt.

Es ist seltsam, aber auch wenn es andere Transportmittel gibt, die nach Fahrplan verkehren, halten sich alle Veranstalter in Hongkong stets an den Service von MTR. Wenig überraschend, dass die Regierung Hongkongs der größte Anteilseigner der Verkehrsbetriebe ist. Jene Regierung, die eine Ausgangssperre einführen möchte, aber sich bisher nur nicht dazu durchgerungen hat, diese zu verkünden.

Künstler:innen wissen daher auch nie, ob alles wie geplant abläuft. Auch bei den noch so intensiven Proben vor Uraufführungen können sie daher nicht die Augen verschließen vor dem, was draußen vor dem Fenster passiert. In jeder Pause greifen alle sofort zum Smartphone und checken die neuesten Entwicklungen.

Falls wieder ein Generalstreik verkündet wird, beteiligen sich auch die KünstlerInnen am Protest, in welcher Form auch immer. Seinen Protest gegenüber der Polizei formulierte einer von ihnen vor kurzem auf Twitter in der Diktion von Shakespeare, bis er selbst verhaftet wurde.

Tränengas, Gummigeschosse und nackte Leichen

Das Alltagsleben ist durch die Proteste erheblich in Mitleidenschaft gezogen. In vielen Vierteln wird Tränengas versprüht, werden Gummigeschosse verschossen. Es gibt inzwischen rätselhafte Fälle von Selbstmord, die mit der Protestbewegung in Zusammenhang gebracht werden. Die Polizei ließ dazu lediglich mitteilen, nackte Leichen seien aufgefunden worden.

Die Opfer seien wahrscheinlich von Hochhäusern in die Tiefe gestürzt. Seltsam, an den Unglücksstellen fanden sich nirgendwo Blutspuren. Alle Toten waren jung. Hongkong gleicht dieser Tage einem lebendigen Leichenschauhaus.

Seit 2014 hat Hongkong eine Open-Air-Galerie, die durch die Stadt wandert: Lennon Wall. Dort werden Post-it-Zettel angeklebt, BürgerInnen verleihen ihrer Wut und ihren Wünschen an die Regierung Ausdruck. Dieses Jahr sind diese Wände in allen Stadtvierteln entstanden. An den Lennon Walls finden sich nützliche Informa­tionen. Am allerwichtigsten ist der zwischenmenschliche Effekt: Die Lennon Walls zeigen einem, dass man nicht allein ist.

Zuletzt konzentrierte sich die Polizei darauf, vier besetzte Universitäten einzunehmen. Die Chinesische Universität (CUHK) befand sich fünf Tage im Belagerungszustand. Dort sah es aus wie auf einem Schlachtfeld.

Todesängste unter den Student:innen

Der Campus liegt auf einem Hügel, weitab vom Stadtzentrum, es gibt nur drei Ausgänge, und es war zu befürchten, dass die Unversehrtheit der Student:innen durch die Kämpfe ­ernsthaft in Gefahr geriet. Bürger:innen fuhren mit ihren Autos zum Campus der CUHK, um die umliegenden Straßen zu blockieren und den Student:innen die Flucht zu ermöglichen. Bei meinem Eintreffen auf den Campus der CUHK traf ich auf zahlreiche Student:innen und Bürger:innen, die Stimmung war angespannt, aber nicht resigniert. Sie hatten Todesängste, aber waren froh, Schutzengel an ihrer Seite zu haben.

Seit Sonntag belagert die Polizei den als einzigen noch besetzten Campus der Polytechnischen Universität. Dort hat sich eine unbekannte Zahl von Aktivist:innen verschanzt. Sie können von ­außen nicht mehr versorgt werden. Bei mehreren Versuchen, das Gelände zu verlassen, wurden am Montag Dutzende festgenommen, andere wurden mit Tränengas zurückgedrängt und eingekesselt.

Noch zögert die Regierung im Zeit­alter von Internet und Handycams offenbar vor einem Aufstandsbekämpfungsszenario, das demjenigen des Platzes des himmlischen Friedens in Peking 1989 gleicht. Langsam aber wird der Protest in Hongkong qualvoll eingedämmt, wenn die Kameras gerade ausgeschaltet sind.

Aus dem Englischen von Julian Weber

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Jahrgang 1975, ist Dramatiker, Regisseur und Lehrer und lebt in Hongkong.

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