Er gehört dazu

Der 21 Jahre junge Grieche Stefanos Tsitsipas gewinnt die ATP Finals in London. Nun wird ihm beinahe alles zugetraut – auch ein Grand-Slam-Titel

Dickes Ding: Stefanos Tsitsipas mit dem riesigen Siegerpokal der ATP-Finals Foto: ap

Aus London Doris Henkel

Doch, es gab schon eine Weile lang Hinweise darauf, wie die Sache mit dem besten Tennisspieler, den Griechenland je hatte, weitergehen würde. Aber man muss trotzdem staunen, wie rasant sich die Dinge in ziemlich kurzer Zeit entwickelt haben. Nicht viel mehr als zwei Jahre, nachdem er sein erstes Spiel im Hauptfeld eines ATP Turniers gewonnen hatte, schnappte sich Stefanos Tsitsipas bei den ATP Finals in London eine der größten Trophäen des Tennis, und dabei wird es aller Voraussicht nach nicht bleiben. Und es ist ebenso schon eine Weile lang zu beobachten, dass die Leute auf ihn fliegen. Nicht nur, weil er mit seiner einhändigen Rückhand klassische Tennismuster in einer Verbindung mit jugendlicher Leichtigkeit und mediterranem Temperament bedient. Sondern auch, weil er abseits des Platzes einen Hang zu den schönen Künsten hat, mit Begeisterung liest, inspiriert fotografiert und seiner Fantasie freien Lauf lässt.

Der Sieg an diesem Novembersonntag in London gegen Dominic Thiem – eine Begegnung auf Augenhöhe, die der beeindruckend spielende Österreicher unglücklich verlor (7:6, 2:6, 6:7) – hat seine Quelle allerdings auch in einer schwierigen Phase. Nachdem Tsitsipas wie schon in Wimbledon auch bei den US Open in der ersten Runde verlor, klagte er über das lähmende Gefühl, immer und immer wieder dasselbe tun zu müssen, und das halte er nicht mehr aus.

Wie es ihm damals ging, das beschrieb er kürzlich in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung so: „Ich wurde aus meiner Komfortzone gerissen, lebte mein Leben nicht mehr so, wie ich das eigentlich möchte. Plötzlich war da eine Menge Druck, mit dem ich nur schwer umgehen konnte. Ich fühlte mich nicht mehr wie ein erwachsener Mensch, sondern wie ein Kind, das alles falsch macht. Ich dachte falsch, ich benahm mich falsch. Ich kam mir auf einmal unendlich klein vor.“

Rückblickend betrachtet hatte die Niederlage in New York allerdings heilenden Charakter; Tsitsipas blieb noch eine Woche in der großen Stadt, ließ sich treiben, fotografierte und versuchte, den Reiz des Alltäglichen wiederzuerkennen. Er fand heraus, dass es wichtig ist, seine andere Seite, die nichts mit dem Tennis zu tun hat, nicht bis zum Ende der Karriere auf dem Trainingsplatz zu parken, sondern sie jetzt gleich stärker auszuleben.

Es war keine so existenzielle Erfahrung wie jener Tag auf Kreta vor vier Jahren, an dem er beinahe im griechischen Meer ertrunken wäre. Damals wurde er von seinem Vater und Coach Apostoles gerettet, diesmal aus ungleich flacherem, aber auch nicht ganz ungefährlichem Gewässer rettete er sich selbst. Seither geht es ihm wieder besser – auch deshalb, weil er beschloss, sich weitestgehend von den bis dahin regelmäßig bedienten sozialen Netzwerken zu verabschieden, um mehr Zeit zu haben.

Spätestens seit Oktober spielt er wieder so gut wie zu Beginn des Jahres, und alles zusammen führte in London zu seinem bisher mit Abstand größten Sieg. Stefanos Tsitsipas behielt die Nerven, als es am Ende noch mal richtig eng für ihn wurde und als er die Gesänge der griechischen Fans auf den Rängen hörte. Als Jüngster seit dem Australier Lleyton Hewitt 2001 gewann er den Titel beim großen Saisonfinale, aber er wird wohl paar Tage brauchen, bis er die Ereignisse wirklich sortiert haben wird. Wie es ihm zwei Stunden nach dem Matchball ging? „Ich kann das gar nicht richtig erklären“, meinte er. „Ganz ehrlich, ich fühle gar nichts, weil es einfach zu viele Empfindungen auf einmal sind. Es ist irgendwie furchteinflößend, die Trophäe zu halten.“

„Es ist irgendwie furchteinflößend,die Trophäe zu halten“

Stefanos Tsitsipas

Vor zwei Jahren verabschiedete sich Griechenlands Bester auf Platz 91 der Weltrangliste in die Winterpause, vor einem Jahr war es Platz 15, jetzt schließt er auf Position sechs ab – und natürlich gehört er zum Kreis jener jungen Spieler, die die Großen des Tennis dereinst beerben sollen. Fragt sich nur, wann.

Stefanos Tsitsipas kann darauf natürlich auch keine konkrete Antwort geben. Aber er beschreibt seine Sicht auf die Zukunft mit einer bemerkenswerten Mixtur aus Selbstbewusstsein und Offenheit. „Ich hab das Gefühl, dass mein Spiel mit der Zeit noch besser werden wird, und ich glaube, dass ich wirklich dicht dran bin, als Sieger eines Grand-Slam-Turniers gekrönt zu werden. Ich weiß, das sind starke Worte, aber ich finde wirklich, dass ich zu diesen Leuten gehöre.“

Er ist nicht der Einzige, der das so sieht.