Fett, Filz und Fallen voller Essensreste

Wie das Material bedeutsam wurde: Das Sprengel Museum beschäftigt sich mit „Aggregatzuständen“ der Kunst

Wolf Vostells „Danae nach Tizian“ aus der Serie „Regen“ von 1976 Foto: Fotos (2): Herling/Herling/Sprengel Museum Hannover © VG Bild-Kunst Bonn, 2019

Von Bettina Maria Brosowsky

Zur guten Tradition des Sprengel Museums in Hannover gehört es, dass der wissenschaftliche Nachwuchs der Volontär*innen eine eigene Ausstellung aus der Sammlung des Hauses bestreiten darf. Recht unorthodox wird der Fundus dabei immer wieder nach unterschiedlichen Themenstellungen durchforstet. So ging es bereits einmal um den (gelenkten) Zufall als schöpferisches Prinzip in der Kunst der Moderne oder um Momente des Müßiggangs und bewusster Entschleunigung. Damit kommentierte das Haus 2015 auch die verzögerte Eröffnung seines Erweiterungsbaus, des umstrittenen „Maschsee-Briketts“ in dunklem Sichtbeton.

Nun ist Katrin Kolk an der Reihe. Sie arbeitet im Schwitters-Archiv des Hauses, hat zum Künstler promoviert. Wie wohl kaum ein anderer Protagonist einer eruptiven Moderne nach dem Ersten Weltkrieg hat Kurt Schwitters die Palette kunstwürdigen Materials radikal erweitert: Fundstücke vom Straßenpflaster, Druckerzeugnisse, Lumpen, Bleche oder auch ein paar Speichen eines kaputten Wagenrades kombinierte er zu Bild-Objekten seiner ureigenen Merz-Kunst. Erst vor Kurzem hatte Kolk an einer Ausstellung zum hundertjährigen Jubiläum dieser Kunstform mitgearbeitet.

Die Rolle des Materials als wechselnde „Aggregatzustände“ der Kunst spinnt Kolk jetzt weiter. Dazu hat sie in sechs Räumen der Sammlungspräsentation rund 60 Werke in sechs Themengruppen zusammengestellt und eine begleitende Publikation herausgegeben.

Es beginnt mit den kostbaren Materialien, wie sie in der Kunstgeschichte bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts obligatorisch waren: Marmor, der Bronzeguss oder auch Alabaster in Bildhauerei und Plastik, Öl auf Leinwand in der Malerei. So sollten der Wert und die Ewigzeitlichkeit eines Kunstwerks sowie die handwerkliche Virtuosität seines Schöpfers unter Beweis gestellt werden – eine Haltung, die auch Meister einer klassischen Moderne wie Hans Arp, Max Bill oder Eduardo Chillida in ihren Werken bewusst fortführten.

In den anschließenden Räumen kommen neuzeitliche und alltagsästhetische Werkstoffe ins Spiel, die erst in Zeiten der Industrialisierung aufkamen. Sie waren für avantgardistische Künstler*innen willkommener Anlass, eine Autonomie der Disziplin und neuer Ausdrucksformen im Bruch mit der Tradition zu formulieren.

Nach verhaltenen Experimenten, etwa durch Einfügen von farbigem Papier oder Zeitungsausschnitten in die bildnerische Aussage kubistischer Collagen im frühen 20. Jahrhundert, befreite Kurt Schwitters ab 1919 das Material aus dieser, ja immer noch dienenden Funktion. Es wurde gleichberechtigter Bedeutungsträger in seinen dreidimensionalen Materialbildern und sandte so einen Impuls in die folgende Kunstgeschichte, der als nicht wirkmächtig genug eingeschätzt werden kann.

Niki de Saint Phalle etwa schuf in den 1960er-Jahren, als Solistin oder gemeinsam mit Jean Tinguely, kleine Assemblagen, neben systematisch anmutenden Materialstudien auch mit wilden Metallgespinsten dynamisierte Objekte, literarisch assoziativ betitelt als „Eva“ oder „Queen of Hearts“.

Eine besondere Spezies unter den künstlerischen Materialien sind Lebensmittel und organische Substanzen. So konservierte Daniel Spoerri in seinen Fallenbildern Essensreste, Geschirr und weiteres Tischgerät aus Künstler-Gelagen zu zeitkulturellen Stillleben, während Joseph Beuys dem Fett existenzielle Qualitäten als vielschichtigem Energiespender zumaß. In seinen seriellen Fettbriefen sind Papier, die Reminiszenz eines klassischen Bildträgers, sowie Fett als neuartige Bedeutungsaufladung unauflöslich miteinander verschmolzen und wechseln im symbolischen Postverkehr Geber und Empfänger.

Konservatorisch wie auch im musealen „Handling“ sind solche Objekte natürlich höchst heikel, ein fortdauernder Zersetzungsprozess unterminiert obendrein jegliche Vorstellung eines mit seiner Fertigstellung abgeschlossenen Kunstwerks. Zudem ist eine Systemkritik an der institutionellen Wertschöpfung im Kunstprozess durch die Verwendung dieser kümmerlichen und instabilen Materialien unübersehbar.

Das Finale ist dem Textil gewidmet. Das künstlerische Gewirk fand etwa in der Bauhaus-Weberei zu neuartiger Blüte in der Raumkunst oder in der zeitgleichen russischen Avantgarde zur Idee konzeptioneller Kleidung. Niki de Saint Phalle gewandete sich in den 1960er-Jahren für ihre legendären Schießbild-Performances in einen modisch körperbetonenden, weißen Overall, der im Laufe der Zeit dezente Farbspritzer und Aktionsspuren annahm.

Für „C'est le piston qui fait la machine“ hat Arman 1960 einfach Motorkolben in einem Holzkasten angeordnet

Er schlummerte wohl unbesehen im Depot des Sprengel Museums ebenso wie ein formal reduzierter, nicht zum Gebrauch bestimmter Filzanzug von Joseph Beuys. Dem Meister ging es bei diesem Werk, ähnlich wie bei der Verwendung des Fettes, neuerlich um einen metaphorischen, kultischen Wert eines Materials, hier des Wärmens, und seiner Demonstration in einem naheliegenden Funktionszusammenhang.

Unter den von Katrin Kolk ausgewählten Werken ist so manches mehr, das noch nie oder höchst selten gezeigt wurde. So überraschen beispielsweise Merz-Bilder aus dem im Exil entstandenen Spätwerk von Kurt Schwitters mit Algen, Rinde, Zweigen, einer Feder oder einer Muschel durch ihre organische, vielleicht auch: versöhnliche Komponente.

Oder die frisch akquirierten Textilien der Hannoveranerin Berenice Güttler: absurde, anatomisch abwegige Schnittführungen. Auch zukünftig darf man wohl auf ungehobene Schätze aus dem Depot gespannt sein, wenn denn die Volontär*innen weiterhin so kreativ tätig werden.

Aggregatzustände. Das Material der Kunst von Abfall bis Zement: bis voraussichtlich Anfang 2021, Hannover, Sprengel-Museum