Nieder mit Schlumpfhausen

Gezeichneter Akt der Rebellion: In seinem neuen Buch „Spinnenwald“ wendet sich der Comickünstler Sascha Hommer gegen die willkürlichen Gesetze seiner Zunft

Schleimwesen und überall Grenzen: Die Jugendlichen in „Spinnenwald“ leben, ohne es zu wissen, in einer Art Reservat Foto: Reprodukt

Von Jan-Paul Koopmann

Was gehen einen schon „Waltrauder“ an, was „Punkis“ – und was diese riesigen fliegende Augen? Selbst wer gegenüber der Fantasy nicht grundsätzlich feindselig eingestellt ist, kann schon mal kirre werden über all diese fiktiven Ethnien, Dynastien, Spezies und was nicht noch alles.

Es ist eine historisch gewachsene Ungerechtigkeit, dass es so stramm organisiert und durchsortiert ausgerechnet in einem Genre zugeht, wo doch theoretisch alles möglich wäre. Sascha Hommers Comic „Spinnenwald“ (Reprodukt 2019, 152 S., 18 Euro) muss man nun allerdings zugute halten, dass es hier mit voller Absicht passiert. Und aus guten Gründen.

Raus aus der Kunstcomicblase

Aufmerken lässt bereits, dass Hommer überhaupt Fantasy macht. So verbreitet ist das nicht in der Kunstcomicblase, der man den ehemaligen Feuchtenberger-Schüler und heutigen Lehrer an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften ja durchaus zuschlagen kann. Wobei das keine Scheuklappen unterstellen soll: Hommer ist auch als Mitinitiator des Comicfestivals Hamburg bekannt, das nun wirklich zuverlässig völlig allürenfrei über sämtliche Tellerränder hinausstürmt.

Die Veröffentlichung des neuen Buchs wird am heutigen Samstag bei Strips & Stories und in der Jägerpassage gefeiert. Mit Recht: „Spinnenwald“ ist Hommers bislang bester Band – und zugleich ein großer Schritt zurück zu seinen Anfängen.

In „Insekt“ hatte Hommer bereits 2006 metaphorisch mit fantastischen Elementen gearbeitet. Um Einzelgänger ging es da und auch grundsätzlicher über das Fremdwerden mit der Welt. Später hat er sich an Literaturadaptionen versucht, auch an kurzen Strips, an Autobiografischem und zuletzt an seiner Reisereportage „In China“.

Die neue Geschichte handelt von Jugendlichen, die – ohne das genau zu wissen – in einer Art Reservat leben oder einem Zoogehege. Drumherum steht eine große Mauer, im Unterholz hausen sonderbare Schleimwesen und an den Grenzen wachen fliegende Wesen darüber, dass keiner abhaut.

So schematisch und unvollständig das auch klingt: Mehr Überblick haben die Figuren des Comics auch nicht. Ihre Jäger- und Soldatengesellschaft wurschtelt sich so durch und verschüttet ihre bescheidenen Erkenntnisse über das Wesen der Welt unter höchst deutungsoffenen Prophezeiungen, Tabus und Regeln.

Schon zeichnerisch fügen sich die Menschen ohne Widerspruch ins System. Es sind stark stilisierte Figuren mit je einem herausragenden Merkmal: Albi trägt etwa eine Augenklappe, während bei Dan die Haare im Gesicht hängen. Dass sie ansonsten alle gleich aussehen, liegt nicht an zeichnerischer Faulheit, sondern es dürfte tatsächlich eine ganze Menge Arbeit gemacht haben, dieser einen vergesellschafteten Figur so viel Leben einzuhauchen.

Etwas Echtwelt

Sie altert sogar: Es gibt Kinder mit großen Köpfen, die bis zur Adoleszenz in die Länge gezogen werden, als Erwachsene dann wie aufgepustet immer dicker werden – um im Endstadium wieder zu schrumpfen, Warzen auszubilden und zu einer Art Meister Yoda zu mutieren.

Wer will, kann „Spinnenwald“ als spekulatives Gesellschaftsbild unter Laborbedingungen lesen und das Science-Fiction nennen. Deutlich mehr Spaß hat hingegen, wer sich auf die Queste der jungen Helden einlässt und es eben Fantasy sein lässt. Interessant ist, dass tatsächlich beides geht.

Wobei es schon lohnt, der Genretopografie noch weiter nachzugehen. Mit eskapistischen Selbstzweckgeschichten in märchenhaftem Setting mit Zauberei und Rassenstereotypen (Kennste einen Zwerg, kennste alle) hat „Spinnenwald“ schon mal nichts zu tun. Man denke an Tolkien, der ja mal bekundet hat, „eine herzliche Abneigung gegen Allegorie“ zu haben und darum angeblich auch keine zu schreiben. Hommers Geschichte hingegen will etwas von Echtwelt und weiß auch eine Menge über sie.

Ja, es schreit geradezu nach Interpretation, wie sich diese Handvoll Knubbelnasen im Dorf am Spinnenwald religiösen Lehren unterwirft, sich in Klassen (oder vielleicht: Kasten) organisiert und ihre schrullige Liebenswürdigkeit gerade noch mitnimmt, während das Individuum zum Funktionsträger verkommt. Jedes Wesen hat eine Funktion in der Geschichte, so wie auch in der Welt. So wie Morlocks und Eloi in H. G. Wells’„Die Zeitmaschine“ die Klassenfrage nachspielen. Und wer das verpasst hat – dem oder der fallen sicher ein- bis zweihundert „Star Trek“-Folgen ein, die auch so funktionieren.

Wenn Hommer nun seine Geschichte über solche Geschichten erzählt, dann ist das auch ein Akt der Rebellion. Gegen willkürliche Gesetze in und außerhalb der Literatur – und dagegen, sich zur passgenauen Figur machen zu lassen. „Spinnenwald“ ist ein unerwartet forderndes Buch darüber, dass die Welt viel größer ist, als sie manchmal tut.

Signierstunde und Ausstellung: Sa, 16. 11.,Strips & Stories

Comic-Releaseparty: Sa, 16. 11, 20 Uhr, Vokü in der Jägerpassage