Im Salat der Apokalypse

Radikal trostlos ist Armin Petras‘ grandiose Henrik-Ibsen-Produktion „Schloss Rosmersholm“, die kein Ziel kennt, keine Zukunft zulässt und der die Gegenwart zum neblig-kalten Nichts gerät

„Rosmersholm“ in Bremen: Die Tote ist zu vital, um tot zu sein und zu tot, um die anderen Leben zu lassen. Foto: Jörg Landsberg/Theater Bremen

Von Benno Schirrmeister

Geschehen wird hier nichts mehr. Richtig, der weiße Klumpen, als der Lisa Guth da auf halber Strecke in einer Pfütze liegt, zuckt noch, hängt am Haken, wird hochgezogen wie ein Sack, aber das kann kaum als Handlung gelten. Norman Plathe-Barr hat das Licht getötet, es ist kalt und unangenehm. Im Halbschatten hat sich jetzt eine Frau eine Zigarette angezündet. Selbst das Schwarz des Raums wirkt abgegriffen, das traute Heim, existiert im Bühnenbild von Peter Schickart nur noch als entkerntes Gerüst.

„Schloss“ haben sie am Bremer Theater dieses schiebbare Lattengestell beißend ironisch genannt, „Schloss Rosmersholm“, das Stück neu betitelt, und „nach Henrik Ibsen“ dazugeschrieben, wahrscheinlich, weil ja auch der olle Norweger tot und vorbei ist. Premiere war am vergangenen Freitag. Aber es ist schon der Klassiker sehr pur, den Armin Petras hier inszeniert hat.

Das Stück ist nicht so populär wie „Nora“. Aber, wie Péter Szondi festgestellt hat – Szondi, der bedeutendste deutschsprachige Literaturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts wäre dieses Jahr 90 geworden, wäre er nicht an den Nazinetzwerken der bundesdeutschen Germanistik 1971 zerbrochen – es ist „sein Meisterwerk“.

Es verkörpert nämlich in Rein­form das analytische Drama, also das Genre, das Ibsen geschaffen hat: ein Stück, in dem nichts anderes passiert, als dass die Überlebenden versuchen, das Vergangene zu verdecken. Oder, schöner mit Szondi: „Nur in sich vergraben, von der ‚Lebenslüge‘ zehrend, konnten Ibsens Menschen leben.“ Irgendwann klappt das nicht mehr, und das Gewesene, das jetzt Schuld heißt, platzt auf. Endlich können sie sterben. Und die Haushälterin ist fassungslos: Grandios komisch stelzt Julischka Eichel durch Bühnennebel und zerfetzte Zeitung wie ein irrer Storch durch postapokalyptischen Salat.

Die Nichthandlung des Dramas, also der Konflikt, der den Dialog am Laufen hält, ist Politik: Pastor Johannes Rosmer tendiert zu Atheismus und Freiheit, und wird von seinem alten Freund und Klassengenossen, Rektor Kroll, deshalb wütend bedrängt: Unangenehm physisch spielt Simon Zigah diesen wütenden Troll. Dieser Mann des Ancien Regime wird von der Zukunft so geplagt wie den Fortschrittsfreund Rosmer und seine potenzielle Geliebte, Fräulein Rebekka West, von dem, wovon sie heimgesucht werden: Die Tat, um die es partout nicht gehen soll, ist der Suizid der Frau Rosmer. Beate hieß sie und war Krolls Schwester.

„Schloss Rosmers­holm“: wieder am 17. 11. und 8. 12., um 18.30 Uhr, sowie am 27. 11., 11. 12. und 20. 12., um 20 Uhr, Theater Bremen, Kleines Haus

Die Unselige ist, weil diagnostiziert unfruchtbar, in den Mühlbach gegangen, damit sich ihr Gemahl mit Rebekka West zusammentun kann. Ein sinnloses Opfer: Wie sollten die zwei vergessen können, dass sie diese Selbsttötung nach Kräften gefördert haben. Annemaike Bakker mit febriler Erotik und Manolo Bertling mit herrlich plastischen Selbstzweifeln spielen dieses Nicht-Paar in teils irrlichternder Betriebsamkeit, teils ahnungsvoller Schwermut. Man sieht sie ahnen, dass sie da nicht raus können nicht runter vom Holm. Auch das Gewoge der Politik drumherum besteht bloß aus Posen und Sprüchen, weil doch immer alles nur um die Vergangenheit kreist.

Die lebt eben nicht nur in der Psyche fort. Sie bleibt wach und gegenwärtig, sucht jeden Satz heim, jedes Wort bezieht sich auf sie, und jedes keimende Gefühl fasst sie an mit kalter, nasser Hand: Lisa Guth trollt als dieses Grauen schon vor Beginn auf der Bühne und liegt da auch die Pause hindurch: ein lebendes Requisit, das als Gravitationszentrum alles Agieren und allen Aktionismus, allen Slapstick der Inszenierung auf sich zieht. Bis sie dann, nach dem Bekenntnis von Annemaike Bakker, mit vereinten Kräften von der Bühne getragen wird.

Danach kann die zwar noch hübsch singen, aber die Spannung ist raus, die Geschichte aus. Alles diffundiert: Zwar gibt es mit Vergangenheit keine Zukunft, aber ohne sie kollabiert sogar die Gegenwart, der sie Substanz gegeben hatte. Es bleibt schleppendes Gerede, das verlustfrei zu straffen gewesen wäre, scheppernde Leere. Ferdinand Lehmann, der als der heruntergekommene Privatgelehrte Rektor Brendel verloren durch diese Wüste stapft, erkennt sich als ein falscher Poet: Er merkt, dass er keine Vision hat, keine Idee, kein Ziel, nichts, gar nichts. Nichts. Und wenn zum Schluss, wenn alles vorbei ist, die Wasserleiche ein Liebeslied singt, ist das kein Trost, sondern bloß das Ende: ortlose Traurigkeit. Schwer zu ertragen. Sehr gutes Theater.