Christa Pfafferott
Zwischen Menschen
: Falten sind die Landkarten der Menschen

Foto: privat

Christa Pfafferott ist Autorin und Dokumentar-filmerin. Sie hat über Macht-verhältnisse in einer forensischen Psychiatrie promoviert. Als Autorin beschäftigt sie sich vor allem damit, Unbemerktes mit Worten sichtbar zu machen.

Manchmal möchte ich die Geschichten aller Falten hören. Die Menschen nach ihren Falten fragen. Ganz selbstverständlich von dem sprechen, was sich in ihren Falten zeigt.

Kamen sie über Nacht oder am Tag? Bei Gesprächen, als ihr auf den Bus gewartet habt? Als ihr euch sorgtet wegen des Geldes? Als ihr nächtelang wach wart, neben euch das Dröhnen der Musik, das Schreien des Kindes? Wann habt ihr die erste Falte in eurem Gesicht gesehen und wann habt ihr aufgehört, sie zu zählen?

Neulich im Zug, die Falten der Frau. Senkrecht durchzogen sie ihre Lippen. Eine neben der anderen. Sie sahen aus wie Nähte, mit denen ihr Mund einmal verschlossen worden war. Sie zog die Lippen ein, spannte den Mund nach innen, als wollte sie ihre Falten glätten. Gern hätte ich mit ihr geredet. Ihr den Mund geöffnet, den sie sich verbat. Verstecken Sie nicht die Falten. Erzählen Sie davon, wenn Sie wollen. Ich möchte die Geschichte Ihrer Falten hören.

Doch kaum jemand redet über seine Falten. Sie werden glatt gezogen, überschminkt, versteckt, verschwiegen, weggespritzt. Es sind unbesprochene Spuren. Dabei sind die Falten die Geschichte, die Landkarte der Menschen. Der Ort, wo sich die Spur der Seele auf dem Körper zeigt. Wo das Glück, der Schmerz, die Last, die der Mensch sonst sorgsam in sich verschließt, nach außen tritt. In den Falten sitzt die Erfahrung, die Energie. Die Kraft gelebter Zeit.

Es wird ein Unterschied gemacht zwischen dem „Zeitaltern“ und dem „Lichtaltern“. Das Zeitaltern ist durch die Gene angelegt, wir können es nicht beeinflussen. Mit Lichtaltern ist das Altern der Haut gemeint, das durch UV-Licht entsteht, durch Sonne, Rauch. Lichtaltern, was für ein schönes Wort.

Ich frage mich. Ist das Lichtaltern bei jedem Menschen einzigartig? Oder gibt es auch das gemeinsame Lichtaltern einer Generation? Falten, die geprägt sind durch das, was um uns geschieht. Die Atmosphäre einer Zeit, die in uns wirkt. Prägt auch das, was aus dem Mensch den Menschen mit Falten macht?

Stein faltet sich unter Druck zusammen. Was macht der Druck unserer Zeit mit uns? Wie zeichnet sich der Geist der Zeit in unsere Körper ein? Hinterlassen Krisen, Kriege, Unruhe und auch Frieden in den Zügen der Menschen ähnliche Spuren? Ich möchte die Geschichte aller Falten hören, der gemeinsamen und der einzelnen. Warum haben manche Falten um die Augen und andere um den Mund? Wie kommt es, dass einige nach dem Schlaf die Falten des Kissens im Gesicht haben und andere nicht? Warum gibt es nichts, was die Falten an den Händen verhindert? Und warum sind Grübchen gewollt, aber nicht die Falten, die im Lauf der Zeit entstehen?

Stein faltet sich unter Druck zusammen. Was macht der Druck unserer Zeit mit uns?

Wie kommt es, dass sich manche entscheiden, ihre Falten wegmachen zu lassen, obwohl man dann anstatt Falten weggemachte Falten sieht? Das Gesicht wirkt auf neue Weise steif. Unter der Oberfläche sind die Falten noch vorhanden. Geglättete Falten wirken anders als ein glattes Gesicht. Ich möchte die Geschichten dieser verlorenen Falten hören. Aber es sind ja nicht nur die Falten, warum ein Gesicht im Lauf der Zeit älter wirkt. Das Junge, Offene geht irgendwann fort. Es ist der Ausdruck. Der Ausdruck, der sich ändert.

Warum sehen Sorgenfalten anders aus als Lachfalten? Menschen, die viel geben, die freundlich das Leben betrachten, behalten oft bis ins hohe Alter etwas Kindliches. Sie haben Falten, als hätten sie die Muskeln des Lächelns und Mitgefühls, der Liebe oft genutzt. Es ist ein Gesicht mit einer Kontur von Freude, von Wärme, die sich in den Falten zeigt. Bei Menschen, die verbittern, die verkniffen durch die Jahre auf ihr Recht pochen, prägt sich dies manchmal auch als Abdruck ein. Gefühle setzen sich in den Zügen fest. Ich möchte die Geschichten aller Falten hören. Der vertuschten, festgezogenen, der freudvollen und der bitteren. Können wir mitentscheiden, wie wir alten? Nicht wie wir zeitaltern. Aber vielleicht, wie wir lichtaltern. Ein wenig können wir entscheiden, ob es Lichtfalten gibt.