Schwere Wahl für Blinde

Die Teilnahme an einer geheimen Wahl ist für Sehbehinderte enorm komplex. Die blinde Sängerin Corinna May konnte dieses Jahr nicht wählen – und hat nun vergebens geklagt

Die Bremer Wahlbereichsleiterin Carola Janssen demonstriert, wie ein Wahlschein in eine Schablone eingepasst werden muss. Sehbehinderte mussten dieses Jahr in Bremen mit fünf Schablonen agieren Foto: Lotta Drügemöller

Von Lotta Drügemöller

Das Wahlrecht gilt als eines der vornehmsten Rechte aller Staatsbürger*innen. Dennoch konnte Corinna May im Mai dieses Jahres nicht wählen – für die Bremer Bürgerschaft, die lokalen Beiräte, das Europaparlament und die Bremer Volksabstimmung ging ihre Stimme verloren. In den Wahllokalen gab es für die blinde Schlagersängerin nicht ausreichend Unterstützung. Am Donnerstag hat sie vor dem Bremer Wahlprüfungsgericht geklagt.

Der Vorwurf: Faktisch wurde ihr als Sehbehinderte die Ausübung der Wahl nicht ermöglicht. Der Landeswahlleiter Andreas Cors verteidigt das Bremer Vorgehen. Man habe Stimmzettelschablonen für Sehbehinderte angefertigt und eigene Audio-CDs, sagt er. Für Nachfragen sei zudem die Telefonnummer des Wahlleiters auf der Wahlbenachrichtigung angegeben. Alle Schritte seien mit Sehbehindertenverbänden abgesprochen gewesen. „Im Rahmen dessen, was der Gesetzgeber vorgibt, haben wir die notwendigen Maßnahmen getroffen“, betont Cors.

Dass die Behörde ihre Pflicht formell erfüllt hat, bestreiten May und ihr Partner, der sie mit der Klage unterstützt, gar nicht. „Was gesetzlich gefordert ist, haben sie größtenteils getan. Aber es reicht nicht aus“, sagt Mays Ehemann Claus Janz. „Mit Gleichheit hat das nicht viel zu tun.“

Die Wahl ist für Blinde kompliziert – und bei der komplexen Bremer Gemengelage, mit vier Wahlen gleichzeitig, war sie 2019 noch kniffliger als sonst. „Es war so kompliziert, dass ich zwei Tage mehr Zeit gebraucht hätte, um zu wählen“, erklärt Corinna May. Für eine Briefwahl wäre es dann zu spät gewesen, deshalb sei sie ins Wahllokal gegangen. Für jeden Wahlschein gibt es dort eine Schablone, für längere sogar zwei oder drei. Diese Schablonen müssen von den Sehbehinderten passgenau auf den jeweils richtigen Wahlschein gelegt werden und dürfen nicht verrutschen – sonst landet das Kreuz womöglich an der falschen Stelle.

Das ist nicht die einzige Schwierigkeit: Damit nicht für jede Seite eines Wahlscheins eine eigene Schablone erstellt werden muss, sind statt der Kandidat*innen- oder Parteinamen nur Nummern in Braille aufgedruckt. Mittels einer Audio-CD können die Sehbehinderten hören, auf welcher Seite ihre Partei zu finden und wem welche Nummer zugeordnet ist.

Ein Abspielgerät für die CD gibt es aber weder im Wahllokal noch im Wahlamt. „Da muss man sich vielleicht einen Discman mitnehmen“, überlegt Carola Janssen, die Wahlbereichsleiterin für Bremen. Insgesamt, so Janssen, „liegt es im Eigeninteresse der Blinden und Sehbehinderten, schon vorab mit Briefwahl zu wählen. Zu Hause hat man eher die nötige Ruhe und Konzentration dafür.“

Verbreitetes Unwissen

Der gut gemeinte Rat ändert nichts daran: Sich erst am Tag der Wahl zu entscheiden, ist ein Grundrecht. Dass May ihre Stimme nicht abgeben konnte, lag denn auch nicht nur an den komplexen Wahlunterlagen, sondern auch am Unwissen der Wahlvorstände vor Ort. In zwei Wahllokalen versuchte May zu wählen, in beiden wusste niemand, wo die Schablonen zu finden sein könnten. Tatsächlich liegen die Hilfsmittel nicht in allen 353 Wahllokalen aus; bei Bedarf müssen sich die Wahlvorstände an ihr Wahlamt wenden – was sie jedoch nicht taten.

Die Erfahrung veranlasste May und ihren Begleiter zu einem Test. Durch die ganze Stadt und (zur Europawahl) sogar bis nach Niedersachsen fuhren sie von Wahllokal zu Wahllokal, um sich zur Blindenwahl informieren zu lassen. In acht Lokalen wollen sie vorgesprochen haben – und dabei acht Mal auf großes Unwissen gestoßen sein.

Wahlleiter Cors kann sich das nicht erklären: Schließlich habe es vorab Schulungen gegeben. „Ich weiß nicht, warum wir im Nachhinein nicht über die Probleme informiert wurden“, sagt er. „Da muss sich die Kommunikation noch verbessern.“

Natürlich könnte ein Helfer das Ausfüllen des Wahlzettels für die sehbehinderte Person übernehmen – geheim ist die Wahl dann allerdings nicht mehr. Auch das Prozedere vorab findet May verbesserungswürdig: „Eine Wahlbenachrichtigung im Briefkasten ist für mich erst mal nur ein Brief“, so die Sängerin. „Ohne Hilfe kann ich damit nichts anfangen – das will der Gesetzgeber eigentlich anders.“ Eine Möglichkeit wäre es, Benachrichtigung und Wahlschein auch in Braille-Schrift anzubieten. Schließlich ist das mittlerweile auch bei Medikamentenpackungen Standard.

Barrierefreiheit ist mehr als rollstuhlgerecht

Am Ende bleibt es dabei: Ja, Blinde sollen wählen können, aber so leicht wie andere haben sie es dabei nicht. „Es gibt im Wahlrecht eine Realisierungsverpflichtung“, sagt Richterin Meike Jörgensen, „aber die Behörde muss nicht jedes Hindernis ausräumen.“ Die Ungültigkeit der Wahl stellte sie in ihrem Urteil am Donnerstag nicht fest.

Ernsthaft hätten May und ihren Mann das auch nicht gewollt – sie hoffen trotzdem, dass der Gesetzgeber einen zeitgemäßeren Umgang mit dem Thema Gleichstellung vorschreibt. Ein Beispiel bringt Ehemann Janz noch: Wahllokalleiter*innen müssen Probleme mit der Barrierefreiheit melden – doch der entsprechende Fragebogen geht nur auf physische Barrieren für Rollstuhlfahrer*innen ein. „Barrierefrei ist mehr als rollstuhlgerecht“, sagt Janz, „das sollte mittlerweile doch bekannt sein.“