Nächster Halt: Kunst

Der Kunstverein Harburger Bahnhof ist der wohl einzige Kunstort mit Fernbahnanschluss. Seit 20 Jahren bietet er Raum auch für Experimentelles

Prächtiger Raum mit viel Platz für Einbauten: Der Kunstverein im Harburger Bahnhof Foto: KVHBF

Von Hajo Schiff

Es begann mit einem Ende: Da ihm sein Atelier gekündigt wurde, suchte der Harburger Maler René Havekost 1997 neue Räume. Unter anderem bekam er das Angebot von der Deutschen Bahn, einen großen, noch mit Gerümpel vollgestellten Raum direkt im alten Empfangsgebäude des Bahnhofs in Harburg zu nutzen.

Überdimensioniert für bloß einen Arbeitsraum, kam die Idee auf, dort einen neuen Kunstverein zu gründen. Zusammen mit dem Kollegen Udo Dettmann und mit einigem Engagement seitens der Verantwortlichen der Bahn konnte nach intensiven Vorbereitungen im November 1999 der Harburger Kunstverein gegründet werden.

Am Anfang war es vor allem ein Ort der Malerei, eröffnet wurde mit einer fulminanten Ausstellung des Schweizer Pop-Realisten Franz Gertsch. Sukzessive entwickelte sich der Verein von einem Präsentationsplatz von Bildern zu einem Ort künstlerischer Prozesse, nahe an junger Produktion und im Austausch sowohl mit den Studenten der Hochschule für bildende Künste wie mit dem speziellen Harburger Umraum.

Es wurde ein mitunter bis zum Harburger Rathaus hin intervenierend ausgreifender Ort, der 2016 für sein Programm von der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine besonders ausgezeichnet wurde und der heute zu seinem 20. Jubiläum manchem vielleicht gar zu experimentell und zu international zu sein scheint. Doch die Institution ist für Künstler und Publikum attraktiv und frühere Kuratoren des derzeit von Annette Hans und Rebekka Seubert geleiteten Programms wie Nina Möntmann, Britta Peters oder Tim Voss haben inzwischen international Karriere gemacht.

Im Bahnhof laut Adresse „über Gleis 3 und 4“ hat der Raum etwas zweifellos Magisches, fast wie Gleis neundreiviertel in der Station Kings Cross bei Harry Potter, wie auch Kultursenator Carsten Brosda (SPD) zum Jubiläumsfest vor einigen Wochen anmerkte. Und der Senator brachte auch ein Geschenk in heutiger magischer Belohnung mit: Die Unterstützung des Kunstvereins wird ab nächstem Jahr um voraussichtlich 60.000 erhöht.

Gefangene Zimmer und singende Felsbrocken

Ein Kunstverein in einem Bahnhof, überhaupt der wohl einzige Kunstort mit Fernbahnanschluss, ermöglicht etwas Einmaliges: Die zufällige Begegnung mit Kunst – und sei es nur, weil der geplante Zug Verspätung hat. Die sieben Meter hohen Räume waren ja zur Kaiserzeit seit 1897 ein aufwendig gestalteter Wartesaal mit Edelrestaurant, vielleicht gar einer der schönsten Deutschlands.

Die Holzkassettendecke und der Stuck wurden denkmalgerecht restauriert. Die frühere Funktion wurde sogar in einer Art Rochade 2012 für ein Projekt der Noroomgallery wieder ausprobiert und die Kunst zog sich in das kleine, heutige Glaswarteräumchen zurück. Mit 300 Quadratmetern reizt der große Raum immer wieder zu Einbauten, sei es ein „gefangenes Zimmer“ als eigener schlicht musealer „White Cube“, seien es singende Felsbrocken, schräge Wände und Rampen oder gar, wie vor ein paar Wochen, die Kopie eines Sportplatzes für das elitär-absurde englische Ballspiel „EtonFives“.

Wo einst die durch Gummihandel und Gummiverarbeitung reich gewordenen Kaufleute in aller Pracht tafelten, tanzte, wer wollte, zum Jubiläum auf Rollschuhen über tropische Bodenmuster des brasilianischen Kollektivs „assume vivid astro focus“ aus São Paulo, das den Raum mit Zeichen botanischer und animistischer Wucherungen füllte, die den alten, längst vertriebenen kolonialen Geist des historischen Raumes ein weiteres Mal umdefinierten, ja sogar Teile eines einst über dem Kaiserbild befindlichen Freskos fragmentarisch wieder sichtbar machten.

Vom heutigen Samstag an zeigt die schwedische Künstlerin Ida Lennartsson, die in Hamburg lebt, in der Vitrine, warum sie überzeugt ist, dass Tauben Kommunisten sind und der Kapitalismus bei ihnen nie wirklich begonnen hat. Und ebenfalls ab dem heutigen Samstag setzt sich Dara Friedman in ihrer Videoarbeit „Temple Door“ mit dem Gegensatz von Gewinnen und Verlieren auseinander – überzeugt davon, dass der wahre Sieg ein Sieg über sich selbst ist.

Die neueste Kunst hat also in Hamburgs Süden einen verlässlichen Spielort gefunden – und sage keiner, der sei schwer zu erreichen.

Kunstverein Harburger Bahnhof, im Fernbahnhof Harburg über Gleis 3 + 4, www.kvhbf.de

Ida Lennartsson – „Avatar Blues“: Sa, 23. 11. bis 12. 1. 20

Dara Friedman – „Temple Door“: Sa, 23. 11. bis 9. 2. 20