Die Liste wird immer länger

Der kalifornische Trompeter Ambrose Akinmusire kommt zum Jazzfest nach Berlin

Von Christian Broecking

Binnen 24 Monaten führte er insgesamt fünf verschiedene Auftragskompositionen auf: Werke, die aufgrund ihrer Einmaligkeit rasch in Vergessenheit geraten. Kurz nach einem Auftritt beim New Yorker Ecstatic Music Festival ging der US-Jazztrompeter Ambrose Akinmusire 2017 mit Kool A. D., Walter Smith III, Marcus Gilmore, Sam Harris, Michael Aaberg und dem Mivos Quartet ins Studio. Der 37-Jährige stellte mit diesem Projekt scheinbar gegensätzliche Dinge nebeneinander: „Origami Harvest“ (Blue Note) nennt Akinmusire diese fließende Studie in Kontrasten, die zeitgenössische Klassik gegen dekonstruierten HipHop mit Ausbrüchen von „Left-Field Jazz“, Spoken Word und Soul aufbringt.

In Zeiten von #BlackLivesMatter sind afroamerikanische Künstler wie Ambrose Akinmusire auf der Hut, da sie ihre Musik keinesfalls auf eine vermeintlich griffige identitäre Kategorie wie Hautfarbe reduziert sehen möchten. Jüngere Musiker wie Akinmusire nennen vielfältigste (außer-)musikalische Einflüsse, aber es bestätigt sich doch auch der Eindruck, es habe sich für Schwarze im Wesentlichen nichts geändert. Ta-Nehisi Coates hat in seinem Buch „Between the World and Me: Notes on the First 150 Years in America“ die Frage diskutiert, was die Übergriffe der Polizei für junge Schwarze heute bedeuten – vor allem Angst.

Daran knüpft Akinmusire an, um „Musik aus der Perspektive eines jungen afroamerikanischen Großstädters zu komponieren“. Und erklärt, in Zeiten wie diesen sei allein der Auftritt eines Afroamerikaners auf einer Bühne bereits ein politisches Statement. „Es ist ein Gefühl, das für Menschen, die nicht in den USA leben, schwer zu übersetzen ist. Wenn ich heute mein Haus in Oakland in ganz normalen Alltagsklamotten – Jeans und Kapuzenshirt – verlasse, reagieren die Leute mit furchtvollen Blicken. Rassismus ist für mich eine grundlegende Erfahrung. Oder anders ausgedrückt: Wenn man nicht schwarz ist und keiner ethnischen Minderheit angehört, ist man nicht verdächtig.“ Als Kind spielte Ambrose Akinmusire bereits Klavier in der Kirche seiner Großmutter, der First Truth Missionary Baptist Church im kalifornischen East Oakland. Ohne ihre Unterstützung wäre er kein Musiker geworden, sagt er heute. Zu Hause wuchs er mit einer musikalischen Mischung aus Aretha Franklin, King Sunny Adé und Snoop Dogg auf. Er sei in einem kulturell reichen, afroamerikanisch geprägten Viertel von Oak­land aufgewachsen, sein Vater stammt aus Lagos, seine Mutter aus Mississippi, einer seiner Mentoren war ein ehemaliger Black Panther.

Bereits auf seinem Debütalbum für Blue Note, „When the Heart Emerges Glistening“ (2011), kommentierte Akinmusire mit seiner Komposition „My Name is Oscar“ die Tötung des 22-jährigen Afroamerikaners Oscar Grant II durch einen Polizisten mit Sätzen wie „I am you, don’t shoot“ und „We are the same“. In „Rollcall for Those Absent“ von seinem Album „The Imagined Savior is Far Easier to Paint“ (2014) lässt Akinmusire von Muna Blake die Namen Schwarzer aufsagen, die von der Polizei getötet wurden. Auf „Origami Harvest“ nimmt Akinmusire den Faden nun in voller Länge auf.

Das Eröffnungsstück „A Blooming Bloodfruit in a Hoodie“ ist Trayvon Martin gewidmet, in „Miracle and Streetfight“ deklamiert Kool A. D., „America! Americana! America–nah! The big monster!“ und auch „Americana / the garden waits for you to match her wildness“ macht bereits im Titel deutlich, wohin Akinmusire will. „Mit der Musik möchte ich dazu anregen, sich von jeglicher Ignoranz zu befreien.“

„Origami Harvest“ ist Akinmusires erstes Werk nach seinem Umzug in seine Heimatstadt und der Geburt seines Sohnes 2015. Auf „Free, White and 21“ sind wieder die Namen von Afroamerikanern zu hören, die von der Polizei getötet wurden. Es mag nervig sein, sich zu wiederholen, sagt Akinmusire. Doch die ständig wachsende Liste schwarzer Leben, die durch strukturellen Rassismus beendet werden, fühle sich für ihn so an, als habe sich seit seinem Debüt für Blue Note nichts geändert.

Ambrose Akinmusire: Jazzfest Berlin, live, 2. 11. 2019, Haus der Berliner Festspiele